Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit
Familie an, die das Salz der Erde ist. Alles, was wir an Großem kennen, ist von Nervösen geschaffen. Sie und keine anderen haben Religionen begründet und Meisterwerke hervorgebracht. Niemals wird die Welt genügend wissen, was sie ihnen verdankt, noch vor allem, was sie gelitten haben, um es ihr zu schenken. Wir genießen kunstvolleMusik, schöne Bilder, tausend erlesene Köstlichkeiten, doch wissen wir nicht, was sie ihre Schöpfer an Schlaflosigkeit, an Tränen, an krampfhaftem Lachen, an Nesselfieber, Asthma, Epilepsie gekostet haben, oder an Todesangst, die schlimmer als alles ist und die Sie vielleicht kennen, Madame«, hier wandte er sich lächelnd meiner Großmutter zu, »denn, gestehen Sie es nur, als ich kam, sind Sie recht ängstlich gewesen. Sie hielten sich für krank, bedenklich krank vielleicht. Gott weiß, von welchem Leiden Sie die Symptome an sich zu entdecken glaubten. Und Sie täuschten sich auch nicht, denn Sie haben sie gehabt. Nervenleiden machen die genialsten Pastiches. Es gibt keine Krankheit, die sie nicht zu kopieren verstehen. Sie ahmen täuschend den Blähungszustand der Dyspepsie, die Übelkeit der Schwangerschaft, die Arhythmie des kranken Herzens, das Fieber der Tuberkulose nach. Wie aber sollten sie, da sie sogar den Arzt irrezuführen vermögen, nicht den Kranken täuschen? Ach! glauben Sie nicht, ich nehme Ihre Leiden nicht ernst; ich dürfte mich nicht anheischig machen, Sie davon zu heilen, wenn ich sie nicht verstünde. Aber sehen Sie, eine gute Beichte sollte auf Gegenseitigkeit beruhen. Ich habe Ihnen gesagt, daß es ohne nervöse Affektion keinen großen Künstler gibt, und was mehr ist«, setzte er mit bedeutungsvoll erhobenem Zeigefinger hinzu, »auch keinen großen Gelehrten. Ich gehe sogar noch weiter, es gibt, ich will noch nicht einmal sagen, keinen guten Arzt, sondern keinen auch nur anständigen Arzt für nervöse Erkrankungen, der nicht selbst eine solche hätte. In der Sphäre der Nervenpathologie ist jeder Arzt, der nicht allzu viele Dummheiten von sich gibt, ein halbgeheilter Kranker, so wie ein Kritiker ein Dichter ist, der keine Verse mehr macht, ein Polizist ein Dieb, der seinen Beruf an den Nagel gehängt hat. Ich, Madame, glaube nicht wie Sie, zuviel Eiweiß zu haben, ich habe keinenervöse Abneigung vor kräftigem Essen und frischer Luft, aber ich kann nicht einschlafen, ohne wenigstens zwanzigmal wieder aufgestanden zu sein und nachgesehen zu haben, ob meine Tür auch geschlossen ist. Und in dem bewußten Sanatorium, in dem ich den Dichter angetroffen habe, der den Hals nicht bewegt, habe ich mir ein Zimmer reservieren lassen, denn unter uns gesagt, verbringe ich dort meinen Urlaub, um mich pflegen zu lassen, wenn sich vor lauter Krankenpflege meine eigene Krankheit verschlimmert hat.«
»Aber, Monsieur, brauche ich denn etwa auch eine solche Kur?« warf meine Großmutter schaudernd ein.
»Das wäre überflüssig, Madame. Die Symptome, die Sie aufweisen, werden vor meinem Wort zurückweichen. Und außerdem haben Sie einen Mächtigen zur Seite, den ich jetzt zu Ihrem Arzt ernenne, nämlich Ihr Leiden selbst, Ihre nervöse Überempfindlichkeit. Selbst wenn ich wüßte, wie ich sie heilen könnte, würde ich mich wohl hüten, es zu tun. Es genügt, daß ich dieses Leiden unter meine Aufsicht bekomme. Ich sehe, Sie haben da auf Ihrem Tisch eines der Werke von Bergotte. Von Ihrer Nervosität geheilt, würden Sie ihn nicht mehr lieben. Soll ich mir nun das Recht zuerkennen, Ihnen anstatt der Freuden, die sie Ihnen verschafft, gesunde Nerven zu schenken, die außerstande sein würden, sie Ihnen zu gewähren? Diese Freuden selbst aber sind eine mächtige Arznei, die mächtigste von allen vielleicht, die es gibt. Nein, ich habe nichts gegen Ihre nervöse Erregbarkeit; ich verlange bloß von ihr, daß sie auf mich hört; ich vertraue Sie ihr an. Sie selbst soll jetzt rückläufig tätig werden. Die Kraft, die sie darauf verwendet hat, Sie am Spazierengehen und an genügender Nahrungsaufnahme zu hindern, soll sie jetzt nutzbar machen, Sie zum Essen, zum Lesen, zum Ausgehen, zu jeder Art von Zerstreuung zu bewegen. Sagen Sie mir nicht, Sie seien zu müde dazu.Müdigkeit ist die organische Verwirklichung einer vorgefaßten Idee. Fangen Sie damit an, diese Idee nicht mehr in sich zu hegen. Und wenn Sie jemals eine kleine Unpäßlichkeit haben, was jedem von uns zustoßen kann, so wird es sein, als hätten Sie sie nicht, denn sie wird inzwischen aus Ihnen das gemacht
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