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Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Titel: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Proust
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in die Champs-Élysées, Madame, und setzen Sie sich neben das Lorbeerboskett, das Ihr Enkel so liebt. Der Lorbeer wird für Sie heilsam sein. Er hat reinigende Wirkung. Nachdem Apollo die Pythonschlange getötet hatte, hielt er seinen Einzug in Delphi mit einem Lorbeerzweig in der Hand. Er wollte sich damit gegen die tödlichen Keime der giftigen Bestie schützen. Sie sehen, der Lorbeer ist das älteste, verehrungswürdigste und, möchte ich hinzusetzen – was ebenfalls seinen Wert in Therapie und Prophylaxe hat – das schönste Antiseptikum.«
    Da ein großer Teil ihres Wissens den Ärzten von ihren Kranken kommt, neigen sie leicht zu der Meinung, dieses Wissen der Patienten sei bei allen das gleiche, und schmeicheln sich, denjenigen, bei dem sie sich im Augenblick befinden, mit einer Bemerkung in Erstaunen zu setzen, die sie von den Kranken übernommen haben, die sie früher pflegten. Daher sagte denn auch der Doktor du Boulbon mit dem feinen Lächeln eines Parisers, der imGespräch mit einem Bauern hofft, diesen dadurch zu blenden, daß er ein Wort aus dessen Dialekt benutzt, zu meiner Großmutter: »Wahrscheinlich vermögen stürmische Nächte Sie zum Schlafen zu bringen, wenn alle starken Schlafmittel versagen.« – »Ganz im Gegenteil, Monsieur, Sturm hindert mich unbedingt am Schlaf.« Doch Ärzte sind empfindlich. »Au!« murmelte du Boulbon stirnrunzelnd, als habe ihn jemand auf den Fuß getreten und als sei die Schlaflosigkeit meiner Großmutter in Sturmnächten für ihn eine persönliche Beleidigung. Doch war seine Eigenliebe wiederum nicht übermäßig, und da er als »überlegener Geist« sich für verpflichtet hielt, an die Medizin nicht zu glauben, fand er sehr bald zu seiner philosophischen Gelassenheit zurück.
    Aus dem leidenschaftlichen Wunsch heraus, von Bergottes Freund beruhigt zu werden, führte meine Mutter zur Stützung seiner These noch an, daß eine leibliche Kusine meiner Großmutter aufgrund eines nervösen Leidens sieben Jahre lang in ihrem Schlafzimmer in Combray eingeschlossen verbracht habe, ohne öfter als ein- oder zweimal in der Woche überhaupt aufzustehen.
    »Da sehen Sie, Madame, ich wußte es nicht und hätte es Ihnen doch sagen können.«
    »Aber, Monsieur, ich bin gar nicht wie sie, eher im Gegenteil; mein Arzt kann mich immer schwer im Bett festhalten«, sagte meine Großmutter, sei es, daß die Theorien des Doktors sie etwas reizten, oder daß sie den Wunsch hatte, ihm alle erdenklichen Einwände zu unterbreiten, damit er sie zurückweise und sie nach seinem Weggehen nicht die geringsten Zweifel mehr an seiner erfreulichen Diagnose in sich würde hegen können.
    »Aber natürlich, Madame, man kann ja nicht, verzeihen Sie mir den Ausdruck, alle Manien gleichzeitig haben; Sie haben zwar diese nicht, dafür aber andere. Gestern habe ich ein Sanatorium für Nervenkranke besucht.Im Garten stand ein Mann auf einer Bank, unbeweglich wie ein Fakir, den Hals in einer Weise geneigt, die höchst unbequem sein mußte. Als ich ihn fragte, was er dort mache, antwortete er mir, ohne sich zu rühren oder den Kopf zu wenden: ›Herr Doktor, ich neige sehr zu Rheumatismus und Erkältungen; nun habe ich mich etwas zuviel im Freien bewegt, und während ich mich dadurch törichterweise erhitzte, lag mein Hals dicht an meinem Flanellzeug. Entferne ich ihn jetzt davon, bevor ich mich abgekühlt habe, kann ich ganz sicher sein, daß ich einen steifen Hals und vielleicht eine Bronchitis bekomme.‹ Und sicher hätte er sie gekriegt. ›Sie sind mir ein schöner Neurastheniker‹, sagte ich zu ihm. Und was meinen Sie, welchen Grund er dafür anführte, daß er keiner sei? Daß, während alle anderen Insassen der Anstalt die Manie hätten, sich zu wiegen, so daß man ein Vorlegeschloß an der Waage habe anbringen müssen, damit sie nicht den ganzen Tag sich immerzu wiegten, er selbst nur mit Gewalt dazu zu bringen sei, auf die Waage zu steigen, so wenig sage es ihm zu. Er tat sich viel darauf zugute, die Manie der übrigen nicht zu teilen, ohne daran zu denken, daß auch er die seine hatte und diese ihn vor einer anderen bewahrte. Fühlen Sie sich bitte durch diesen Vergleich nicht verletzt, Madame, zumal dieser Mann, der aus Furcht vor Erkältung den Hals nicht zu bewegen wagte, der größte Dichter unserer Tage ist. Dieser arme Besessene ist die höchste mir bekannte Intelligenz. Nehmen Sie ruhig auf sich, als nervös bezeichnet zu werden. Sie gehören der großartigen und beklagenswerten

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