Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit
galantem Stil war das gesagt!« 1 Und sie zog auch noch geflissentlich einen Ausspruch ihrer eigenen Marquise, Madame de Sévigné, heran: »Als ich sie hörte, dachte ich, sie bereiteten mir einen recht köstlichen Abschied.« 2
Diese Worte richtete sie an mich, Worte, in die sie ihr ganzes Feingefühl, ihre Freude am Zitieren, ihr Gedächtnis für die Klassiker hineingelegt hatte, etwas mehr sogar, als sie es üblicherweise getan hätte, wie um zu zeigen, daß sie das noch alles besaß. Doch die Sätze selbst erriet ich mehr, als daß ich sie vernahm, denn mit so röchelnder Stimme brachte sie sie hervor und zwischen so fest zusammengebissenen Zähnen, daß die Furcht vor neuem Erbrechen als Erklärung nicht genügen konnte.
»Weißt du was«, sagte ich möglichst beiläufig, damit es nicht so aussah, als legte ich ihrem Unwohlsein allzuviel Bedeutung bei, »da dir nicht ganz gut ist, könnten wir doch, wenn du lieber möchtest, wieder nach Hause gehen; ich möchte doch nicht in den Champs-Élysées mit einer Großmutter spazierengehen, die eine Magenverstimmung hat.«
»Ich wagte nicht, es vorzuschlagen wegen deiner Freunde«, antwortete sie mir. »Armer Junge! Aber wenn es dir recht ist, wäre es wohl das beste.«
Ich fürchtete, sie könne selbst bemerken, in welcher Weise sie diese Worte aussprach.
»Komm«, sagte ich brüsk zu ihr, »ermüde dich nicht mit Sprechen, wenn dir nicht gut ist; das hat doch keinen Sinn, warte lieber damit, bis wir zu Hause sind.«
Sie lächelte mich traurig an und drückte mir die Hand. Sie hatte begriffen, daß sie mir nicht verbergen konnte, was ich sofort erriet: sie hatte eben einen leichten Schlaganfall gehabt.
II
E RSTES K APITEL
Krankheit meiner Großmutter. Krankheit Bergottes. Der Herzog und der Arzt. Niedergang meiner Großmutter. Ihr Tod.
Mitten durch die Menge der Spaziergänger hindurch gelangten wir wieder auf die andere Seite der Avenue Gabriel. Ich ließ meine Großmutter auf einer Bank warten und ging eine Droschke holen. Sie, in deren Seele ich mich immer bei der Beurteilung selbst der belanglosesten Person versetzt hatte, war mir jetzt verschlossen, sie war ein Teil der Welt außerhalb von mir geworden; mehr als jedem Vorübergehenden mußte ich ihr verschweigen, was ich von ihrem Zustand hielt, und meine Unruhe verbergen. Ich hätte mich ihr nicht freimütiger als irgendeiner fremden Person eröffnen können. Sie hatte mir soeben die Gedanken und Kümmernisse, die ich ihr seit meiner Kindheit für alle Zeiten anvertraut hatte, zurückgegeben. Sie war noch nicht tot. Ich war schon allein. Selbst ihre Anspielungen auf die Guermantes, auf Molière und auf unsere Gespräche über den kleinen Kreis hatten etwas Haltloses, Grundloses, Unwirkliches, denn sie kamen aus dem Nichts eben jenes Wesens, das morgen vielleicht nicht mehr existierte und für das sie keinen Sinn mehr hätten, aus jenem Nichts – unfähig, sie zu begreifen –, das meine Großmutter bald sein würde.
»Das mag schon sein, Monsieur, aber Sie sind bei mir nicht angemeldet, Sie haben keine Nummer. Überhaupt habe ich heute keine Sprechstunde. Sie haben dochgewiß Ihren Hausarzt. Ich kann mich nicht an seine Stelle setzen, es sei denn, daß er mich beizieht. Das ist eine Frage der Deontologie …«
In dem Augenblick, als ich eine Droschke heranwinkte, hatte ich den berühmten Professor E. 1 getroffen, der mit meinem Vater und meinem Großvater befreundet oder zumindest gut bekannt war und in der Avenue Gabriel wohnte; einer plötzlichen Eingebung folgend hatte ich ihn in dem Augenblick angehalten, als er ins Haus treten wollte, denn ich dachte, er könne vielleicht meiner Großmutter einen guten Rat geben. Doch nachdem er sich seine Post hatte geben lassen, wollte er mich rasch loswerden, und ich konnte nur mit ihm reden, indem ich ihn im Fahrstuhl, bei dessen Bedienung er meine Hilfe ablehnte – eine Manie von ihm –, nach oben begleitete.
»Aber, Herr Professor, ich bitte Sie ja nicht, meine Großmutter zu empfangen; nach dem, was ich Ihnen sage, werden Sie ja auch begreifen, daß sie dazu schlecht in der Lage wäre; ich möchte Sie lediglich ersuchen, in einer halben Stunde bei uns vorbeikommen, bis dahin wird sie zu Hause sein.«
»Bei Ihnen vorbeikommen? Aber was glauben Sie denn! Ich speise heute abend beim Handelsminister und habe vorher noch einen Patienten zu besuchen, ich muß mich jetzt gleich umziehen; zu allem Unglück hat auch noch einer meiner beiden Fräcke einen
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