Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit
gerade deshalb so erstaunt angestarrt, weil er mit allen, die gerade vorüberkamen, sehen konnte, wie in der Droschke, in deren Fond sie zu sitzen schien, meine Großmutter unterging, in den Abgrund glitt, wobei sie sich verzweifelt an den Kissen hielt, die ihren in die Tiefe stürzenden Körper kaum zu halten vermochten, eine Gestalt mit zerzaustem Haar und wirrem Blick, die unfähig war, dem Ansturm der Bilder länger zu begegnen; ihre Pupillen versagten. Man hatte sie sehen können, obwohl sie neben mir saß, versunken in jener unbekannten Welt, aus deren Tiefe sie schon die Schläge erhalten hatte, deren Spuren sie trug, als ich sie kurz zuvor in den Champs-Élysées erblickt hatte, Hut, Antlitz und Mantel entstellt von der Hand des unsichtbaren Engels, mit dem sie gerungen hatte.
Ich bin seither auf den Gedanken gekommen, daß der Augenblick des Schlaganfalls für meine Großmutter vielleicht gar nicht so ganz überraschend gekommen war, daß sie ihn seit langem vorausgesehen und in seiner Erwartung gelebt hat. Sicherlich hatte sie nicht gewußt, wann der verhängnisvolle Augenblick wirklich eintreten werde, und lebte in der Ungewißheit eines Liebenden, den ein Zweifel derselben Art dazu führt, bald unvernünftige Hoffnungen, bald ungerechtfertigten Verdacht bezüglich der Treue seiner Geliebten zu hegen. Doch es ist selten, daß schwere Krankheiten wie diejenige, die sie endlich voll ins Antlitz getroffen hatte, nicht lange vorher bereits in dem Kranken, den sie töten werden, sich einnisten und in dieser Zeit wie ein Nachbar oder ein Mieter, der einen »Kontakt« sucht, seine Bekanntschaftmachen. 1 Um eine furchtbare Bekanntschaft handelt es sich dabei, weniger wegen der Leiden, die sie mit sich bringt, als wegen der seltsamen Neuheit der endgültigen Beschränkung, die sie dem Leben auferlegt. Wir sehen uns in diesem Fall nicht erst im Moment des Todes sterben, sondern Monate, manchmal Jahre vorher, das heißt, seitdem er in so häßlicher Weise in uns Einzug gehalten hat. Die Kranke macht die Bekanntschaft des Fremden, den sie in ihrem Hirn auf und ab gehen hört. Gewiß kennt sie ihn vom Sehen nicht, aber aus den Geräuschen, die sie ihn regelmäßig machen hört, leitet sie seine Gewohnheiten ab. Ist er ein Übeltäter? Eines Morgens hört sie ihn nicht mehr. Er ist fort. Ach, daß er es doch für alle Zeiten wäre! Am Abend ist er wieder da. Welche Absichten hegt er? Der zur Beratung hinzugezogene Arzt, den man auf Ehre und Gewissen fragt wie eine angebetete Geliebte, antwortet mit Schwüren, die man am einen Tag glaubt, am anderen verwirft. Mehr noch im übrigen als die einer Geliebten spielt der Arzt die Rolle eines Bedienten, bei dem man sich erkundigt. Er gibt den unbeteiligten Dritten ab. Das Wesen, in das wir dringen und von dem wir argwöhnen, daß es uns hintergehen könnte, ist das Leben selbst, und obwohl wir in ihm schon nicht mehr das gleiche sehen wie zuvor, glauben wir ihm doch oder bleiben jedenfalls im Zweifel bis zu dem Tag, da es uns schließlich verlassen hat.
Ich setzte meine Großmutter in Professor E. s Fahrstuhl; gleich darauf erschien er selbst und ließ uns in sein Sprechzimmer eintreten. Dort aber, so eilig er es hatte, wandelte sich seine schroffe Miene, so stark ist die Macht der Gewohnheit, und er pflegte mit seinen Patienten liebenswürdig zu scherzen. Da er meine Großmutter als sehr belesen kannte und es auch selber war, zitierte er ihr zwei oder drei Minuten lang in Anspielung auf den strahlenden Tag schöne Verse über den Sommer.Er hatte sie in einen Lehnstuhl gesetzt und sich selbst ihr gegenüber mit dem Rücken gegen das Licht niedergelassen, so daß er sie gut sah. Seine Untersuchung war gründlich, sie erforderte sogar, daß ich das Zimmer für einen Augenblick verließ. Er fuhr noch weiter damit fort, und als er fertig war, fing er, wiewohl die Viertelstunde fast vergangen war, noch einmal meine Großmutter mit Zitaten zu unterhalten an. Er richtete sogar ein paar ganz geistreiche Scherzworte an sie; ich hätte sie zwar lieber an einem anderen Tag vernommen, aber sie beruhigten mich doch vollkommen durch den heiteren Ton, in dem der Doktor sie vortrug. Ich erinnerte mich daraufhin, daß Monsieur Fallières als Senatspräsident vor etlichen Jahren einen vermeintlichen Schlaganfall gehabt, zur Verzweiflung seiner politischen Gegner drei Tage darauf bereits seine Tätigkeit wieder aufgenommen hatte und sich, wie man sagte, darauf vorbereitete, über kurz oder lang
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