Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit
für die Wahl des Präsidenten der Republik sich als Kandidaten aufstellen zu lassen. 1 Mein Vertrauen auf eine rasche Wiederherstellung meiner Großmutter war um so vollständiger, als ich in dem Augenblick, da ich mich an das Beispiel Monsieur Fallières’ erinnerte, aus meinen Gedanken an eine solche Parallele durch ein freimütiges Lachen aufgescheucht wurde, mit dem Professor E. einen spaßhaften Ausspruch beendete. Darauf zog er seine Uhr, runzelte fieberhaft die Brauen, denn er sah, daß er sich um fünf Minuten verspätet hatte, und, während er sich von uns verabschiedete, schellte er, damit er auf der Stelle seinen Frack bekäme. Ich ließ meine Großmutter vorausgehen, schloß noch einmal die Tür und bat den Gelehrten, mir die Wahrheit zu sagen.
»Ihre Großmutter ist verloren«, sagte er zu mir. »Es handelt sich um einen Schlaganfall, der auf eine Urämie 2 zurückgeht. An sich ist Urämie nicht unbedingt einetödliche Krankheit, doch dieser Fall scheint mir hoffnungslos. Ich brauche Ihnen nicht zu sagen, wie gern ich mich täuschen würde. Im übrigen sind Sie bei Cottard ja in denkbar besten Händen. Sie entschuldigen mich«, sagte er, als ein Zimmermädchen mit dem Frack des Professors eintrat. »Sie wissen, daß ich eine Abendeinladung beim Handelsminister habe und vorher noch einen Besuch machen muß. Ach! Das Leben ist nicht immer rosig, wie man in Ihrem Alter noch meint.«
Daraufhin reichte er mir liebenswürdig die Hand. Ich hatte die Tür hinter mir geschlossen, und ein Diener geleitete uns in das Vorzimmer, meine Großmutter und mich, als wir hinter uns einen lauten Zornausbruch vernahmen. Das Zimmermädchen hatte vergessen, das Knopfloch für die Orden einzuschneiden. Das würde nun weitere zehn Minuten in Anspruch nehmen. Der Professor tobte noch immer, während ich auf dem Treppenflur meine Großmutter ansah, die verloren war. Jeder Mensch ist doch völlig allein. Wir setzten unseren Heimweg fort.
Die niedergehende Sonne entflammte eine endlose Mauer, an der unsere Droschke entlang mußte, bevor sie zu der Straße gelangte, in der wir wohnten; und auf der Mauer zeichnete sich der Schatten, den das Abendlicht von Pferd und Wagen warf, schwarz von dem rötlichen Grund ab, wie ein Leichenwagen auf einer pompejanischen Terrakotta. 1 Endlich kamen wir an. Ich bat die Kranke, sich unten an der Treppe im Vestibül hinzusetzen, und ging hinauf, um meine Mutter vorzubereiten. Ich sagte ihr, die Großmutter komme etwas unwohl heim, es sei ihr schwindlig geworden. Gleich bei meinen ersten Worten erschien auf dem Gesicht meiner Mutter der Ausdruck äußerster, wiewohl schon derart resignierter Verzweiflung, daß ich begriff, sie habe ihn seit langen Jahren in sich bereitgehalten für einen ungewissen,letzten Tag. Sie stellte keine Frage; es schien, daß sie, wie die Bosheit die Leiden der anderen gern übertreibt, aus Liebe nicht zugeben wollte, daß ihre Mutter schwer leidend sei, zumal an einer Krankheit, die den Geist in Mitleidenschaft ziehen kann. Mama erschauerte, ihr Gesicht weinte ohne Tränen, sie gab eilends Order, den Arzt zu holen, doch als Françoise wissen wollte, wer krank sei, konnte sie ihr nicht antworten; die Stimme blieb ihr in der Kehle stecken. Dann ging sie schnell mit mir die Treppe hinunter, wobei sie aus ihrem Gesicht das Schluchzen wischte, das es in Falten gelegt hatte. Meine Großmutter wartete unten auf der Bank im Vestibül; sobald sie uns hörte, richtete sie sich auf, hielt sich gerade und winkte meiner Mutter heiter mit der Hand. Ich hatte ihr den Kopf zur Hälfte mit einer Mantille aus weißer Spitze umhüllt, angeblich damit sie im Treppenhaus nicht friere. Ich wollte nicht, daß meine Mutter zu sehr die Veränderung des Gesichts, die Verschiebung des Mundes bemerke; meine Vorsicht war vergeblich: meine Mutter trat zu Großmama, küßte ihr die Hand, als wäre es die ihres Gottes, stützte und hob sie bis zum Fahrstuhl hin mit unendlicher Behutsamkeit, in der außer der Furcht, ungeschickt zu sein und ihr wehzutun, die Demut lag, die sich unwürdig weiß zu berühren, was sie an Allerkostbarstem kennt; doch nicht ein einziges Mal hob sie den Blick zu dem Gesicht der Kranken. Vielleicht um sie nicht traurig zu stimmen bei dem Gedanken, ihr Anblick habe ihre Tochter beunruhigen können. Vielleicht aus Furcht vor einem zu starken Schmerz, dem sie nicht zu begegnen wagte. Vielleicht aus Ehrfurcht, weil sie glaubte, sie dürfe nicht pietätlos die Spur einer
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