Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit
Schwächung des Geistes auf dem verehrten Antlitz feststellen. Vielleicht um später das Bild des wahren Antlitzes ihrer Mutter unversehrt in sich tragen zu können, strahlend von Geist und Güte. So stiegen sie nebeneinander empor, meineGroßmutter halb in ihrer Mantille verborgen, meine Mutter mit abgewandten Augen.
Zu gleicher Zeit gab es jemand, dessen Augen nicht davon abließen, auf den veränderten Zügen meiner Großmutter – Zügen, die ihre Tochter nicht anzusehen wagte – das abzulesen, was man erahnen konnte, jemand, der einen verblüfften, unverhohlenen Blick voll schlimmer Vorahnung darauf heftete: Françoise. Nicht, daß sie meine Großmutter nicht aufrichtig liebte (sie war sogar enttäuscht und fast empört angesichts der Kälte Mamas, von der sie am liebsten gesehen hätte, sie würfe sich schluchzend in die Arme ihrer Mutter), aber sie hatte einen gewissen Hang, immer das Schlimmste ins Auge zu fassen, und von ihrer Kindheit her zwei Dinge beibehalten, die sich auszuschließen scheinen, die aber, wenn sie zusammentreffen, sich gegenseitig verstärken: die mangelnde Erziehung der Leute aus dem Volk, die ihre Eindrücke nicht zu verbergen trachten, zum Beispiel den schmerzlichen Schrecken, den in ihnen der Anblick einer physischen Veränderung auslöst, die nicht bemerken zu wollen zartfühlender wäre, und die fühllose Derbheit der Bäuerin, die den Libellen die Flügel ausreißt, bevor sie Gelegenheit hat, einem Hähnchen den Hals umzudrehen, und die nicht genügend Schamgefühl besitzt, um das Interesse zu verbergen, das der Anblick körperlichen Leidens in ihr weckt.
Als meine Großmutter dank der vollendeten Sorgsamkeit von Françoise zu Bett gebracht war, bemerkte sie, daß sie leichter sprechen konnte; der von der Urämie bewirkte kleine Riß oder die Verstopfung eines Gefäßes war wohl sehr leicht gewesen. Da wollte sie Mama nicht im Stich lassen, sondern ihr in den grausamsten Augenblikken beistehen, die diese jemals durchgemacht hatte.
»Na denn, mein Kind«, sagte sie und ergriff ihre Hand, während sie die andere vor dem Mund behielt, um damitdie andauernde leichte Schwierigkeit zu erklären, mit der sie gewisse Worte aussprach, »ist das das ganze Mitleid, das du für deine Mutter übrig hast? Du scheinst nicht zu wissen, wie unangenehm so eine Magenverstimmung ist!«
Da richteten sich zum erstenmal die Augen meiner Mutter leidenschaftlich auf jene meiner Großmutter, während sie das übrige Gesicht gar nicht sehen wollten, und die Reihe falscher Schwüre, die man nicht halten kann, eröffnend, sagte sie zu ihr:
»Mama, du bist sicher bald wieder gesund, deine Tochter bürgt dir dafür.«
Und sie schloß ihre allerstärkste Liebe, ihren ganzen Willen, daß ihre Mutter gesunden möge, in einen Kuß, dem sie ihre Gefühle anvertraute und den sie mit all ihren Gedanken, ja mit ihrem ganzen Wesen bis an den Rand ihrer Lippen geleitete, um ihn demütig und fromm auf die verehrte Stirn niederzulegen.
Meine Großmutter klagte über eine Art Anschwemmung von Decken, die dauernd von derselben Seite her ihr linkes Bein bedrückte und nicht wegzubringen war. Sie machte sich aber nicht klar, daß der Grund dafür in ihr selber lag (so daß sie jeden Tag Françoise ungerechterweise beschuldigte, sie »baue« ihr Bett nicht richtig zurecht). Mit einer krampfhaften Bewegung warf sie auf jene Seite das Schaumgewirr ihrer feinen Wolldecken, die sich dort allmählich festsetzten wie Sand in einer Bucht, die (wenn nicht ein Damm Einhalt gebietet) rasch durch die mit der Flut erfolgenden ständigen Anspülungen versandet.
Meine Mutter und ich (unsere Lüge wurde freilich von vornherein durch Françoise scharfsichtig und verletzend aufgedeckt) wollten nicht einmal zugeben, daß meine Großmutter ernstlich krank war, als hätte das den Feinden, die sie im übrigen gar nicht hatte, Vergnügen bereiten können und als wäre es liebevoller zu finden, es geheihr gar nicht so schlecht, eigentlich aus dem gleichen instinktiven Gefühl heraus, das mich hatte vermuten lassen, Andrée bedauere Albertine zu nachdrücklich, um sie wirklich zu lieben. Aus Anlaß großer Krisen treten bei den Einzelnen und bei der Masse die gleichen Phänomene auf. Wer sein Vaterland nicht liebt, sagt in einem Krieg nichts Schlechtes von ihm, hält es jedoch für verloren, bedauert es und sieht schwarz für die Zukunft.
Françoise erwies uns durch ihre Fähigkeit, auf Schlaf zu verzichten und die härtesten Arbeiten auf sich
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