Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Titel: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Proust
Vom Netzwerk:
zu nehmen, einen unschätzbar großen Dienst. Wenn sie endlich nach mehreren Nächten, während deren sie auf den Füßen geblieben war, sich einmal hinlegte und man sie eine Viertelstunde, nachdem sie eingeschlafen war, schon wieder wecken mußte, war sie so froh, mühselige Dinge auf sich zu nehmen, als seien es die einfachsten von der Welt, daß, anstatt mürrisch zu wirken, ihr Gesicht von Befriedigung und Bescheidenheit strahlte. Nur zur Stunde der Messe und zur Stunde des Frühstücks hätte meine Großmutter im Sterben liegen können, Françoise wäre rechtzeitig fortgewesen, um nicht zu spät zu kommen. Sie konnte und wollte sich nicht durch ihren jungen Laufburschen vertreten lassen. Sicherlich hatte sie von Combray her eine sehr hohe Meinung von den Pflichten eines jeden uns gegenüber mitgebracht; sie hätte nicht geduldet, daß einer unserer Leute es an »Respekt« uns gegenüber hätte fehlen lassen. Das hatte sie zu einer so edlen, machtvollen und wirksamen Erzieherin gemacht, daß wir niemals bei uns Dienstboten hatten, die so verdorben gewesen wären, daß sie nicht schleunigst ihre Auffassung vom Leben gewandelt und so weit geläutert hätten, daß sie den »Sou vom Franc« 1 nicht mehr annahmen und herbeistürzten – wie wenig dienstfertig sie bisher gewesen sein mochten –, um mir selbst das kleinste Päckchen aus den Händen zu nehmen, und mir dieMühe, es zu tragen, ersparen wollten. Doch hatte Françoise in Combray auch die Gewohnheit angenommen – und nach Paris importiert –, daß sie bei ihrer Arbeit keine Hilfe neben sich duldete. Daß jemand ihr Beistand leisten wollte, betrachtete sie als Kränkung, und manche Dienstboten hatten wochenlang den Morgengruß von ihr nicht erwidert bekommen, ja gingen sogar in Urlaub, ohne daß sie ihnen adieu gesagt hätte, wobei sie keineswegs wußten, weshalb, in Wirklichkeit jedoch allein aus dem Grund, weil sie ihr an einem Tag, als sie selbst sich nicht sehr wohl fühlte, etwas von ihrer Arbeit hatten abnehmen wollen. Von dem Augenblick an aber, als es meiner Großmutter so schlecht ging, sah Françoise ihre Arbeit in erhöhtem Maße als die ihre an. Sie, die allein darauf einen Anspruch besaß, wollte sich ihre Rolle an solchen Galatagen nicht fortnehmen lassen. Ihr junger Laufbursche, der von ihr kaltgestellt worden war und nicht wußte, was er tun sollte, begnügte sich nicht mehr damit, nach Victors Beispiel sich Briefpapier aus meinem Zimmer zu holen, sondern entnahm auch Gedichtbände aus meiner Bibliothek. Über ihnen verbrachte er lesend mehr als die Hälfte des Tages, teils aus Bewunderung für die Dichter, die diese Werke geschaffen hatten, teils auch, um die Briefe, die er in der anderen Hälfte seiner Zeit seinen Freunden im Dorf schrieb, mit Zitaten zu schmücken. Ganz offenbar glaubte er, ihnen damit zu imponieren. Da er aber kein sehr folgerichtiger Denker war, hatte er sich die Meinung gebildet, diese Gedichte, die er in meiner Bibliothek fand, seien jedermann bekannt und es sei ganz üblich, sich darauf zu beziehen. Das ging so weit, daß er in seinen Briefen an jene Bauern, mit deren Staunen er rechnete, unter seine eigenen Betrachtungen Verse von Lamartine mischte, wie man »kommt Zeit, kommt Rat« oder auch nur »grüß Gott« gesagt hätte.
    Da meine Großmutter Qualen litt, gab man ihrMorphium. Dieses linderte zwar ihre Schmerzen, vermehrte aber unglücklicherweise auch ihr Eiweiß. Die Streiche, die wir gegen das in meiner Großmutter sitzende Übel führen wollten, trafen immer daneben; sie selbst, ihr elender Körper empfing sie wie ein vorgehaltener Schild, ohne daß sie ihr Leiden in mehr als einem schwachen Stöhnen äußerte; und wir vermochten die Schmerzen, die wir ihr bereiteten, durch keine Wohltat aufzuwiegen. Wir hatten das grausame Übel, das wir austilgen wollten, nur gestreift; wir stachelten es nur weiter an und beschleunigten vielleicht die Stunde, in der die Gefangene verschlungen werden sollte. 1 An den Tagen, an denen der Eiweißbefund allzu beunruhigend war, untersagte Cottard nach kurzem Zögern den Gebrauch von Morphium. Dieser so unbedeutende, so gewöhnliche Mann hatte in den kurzen Augenblicken des Überlegens, in denen er die Gefahren der einen und anderen Behandlung in sich gegeneinander abwog, bis er sich für eine entschied, die Größe eines Feldherrn, der, obgleich im übrigen Leben vulgär, ein großer Stratege ist, in einem Augenblick großer Gefahr nach kurzem Überlegen sich für das

Weitere Kostenlose Bücher