Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit
melodische Fluß, jene altertümlichen Ausdrücke, dann auch einige andere, ganz einfache und bekannte, für die er aber durch den Platz, an dem er sie hervorhob, eine ihm innewohnende ganz eigene Neigung zu offenbaren schien; endlich an den traurigen Stellen eine gewisse Schroffheit, ein beinahe rauher Ton. Sicherlich mußte er auch selber spüren, daß er hier seine größten Reize entfaltete. Denn wenn er in den folgenden Büchern eine große Wahrheit feststellte oder den Namen einer berühmten Kathedrale erwähnte,unterbrach er seine Erzählung und ließ in einer Beschwörung, einer Anrede, einem langen Gebet jenen Ergießungen freien Lauf, die in seinen ersten Büchern unter dem Fluß seiner Prosa verborgen blieben und sich nur im leisen Wogen der Oberfläche verrieten, beglückender vielleicht und harmonischer noch in dieser Verhülltheit, unter der man nie genau den Punkt bestimmen konnte, wo sie ihren Anfang nahmen und wo sie endeten. Diese Stellen, in denen er sich selbst so gern erging, waren unsere Lieblingsstellen. Ich kannte sie auswendig. Wenn er den Faden seiner Erzählung wieder aufnahm, war ich enttäuscht. Wann immer er von etwas sprach, dessen Schönheit mir bis dahin verborgen geblieben war, von Pinienwäldern, vom Hagel, der Notre-Dame in Paris, von Athalie oder Phèdre , ließ er in einem Bilde diese Schönheit blitzartig bis zu mir hin aufleuchten. Da ich nun deutlich spürte, wie viele Teile der Welt es gab, die mein unzulängliches Auffassungsvermögen nie erkennen würde, wenn er sie mir nicht nahebrachte, hätte ich gerne zu allem eine Ansicht von ihm, eine von ihm geprägte Metapher für alle Dinge gehabt, ganz besonders aber für die, die ich selbst eines Tages sehen würde, und unter diesen vorzugsweise die alten Bauwerke Frankreichs und gewisse Meereslandschaften; denn daraus, daß er in seinen Büchern immer wieder auf sie zurückkam, ging für mich hervor, daß sie für ihn etwas besonders Bedeutungsvolles und Schönes hatten. Unglücklicherweise war mir seine Ansicht zu fast allem unbekannt. Ich zweifelte nicht, daß sie von der meinen völlig verschieden sein werde, da sie ja aus einer unbekannten Welt herniedergestiegen kam, zu der ich mich erst zu erheben versuchte: Überzeugt, daß meine Gedanken diesem vollkommenen Geist töricht erscheinen müßten, hatte ich mich so gründlich ihrer aller entledigt, daß mir, wenn ich zufällig in seinen Büchern einenGedanken antraf, den ich selbst schon gehabt hatte, das Herz schwoll, als wenn ein Gott in seiner Güte ihn mir wiederschenkte, gleichzeitig legitimiert und für schön erklärt. Es kam manchmal vor, daß eine Seite von ihm dieselben Dinge enthielt, wie ich sie oft nachts an meine Großmutter oder meine Mutter schrieb, wenn ich nicht schlafen konnte, so daß diese selbe Seite aus Bergotte wie eine Sammlung von Leitsprüchen war, die ich über meine Briefe hätte setzen können. Sogar später, als ich an einem Buch zu arbeiten begann, fand ich das Ebenbild gewisser Sätze, deren Qualität mich nicht bewegen konnte, damit fortzufahren, bei Bergotte. Doch nur damals, als ich sie in seinem Werk las, konnte ich sie genießen; wenn ich selbst sie in der ängstlichen Sorge formulierte, sie möchten auch ja genau das widerspiegeln, was sich in meinem Denken abzeichnete, und fürchtete, sie möchten nie ganz »treffend« sein, hatte ich ja gar keine Zeit, mich zu fragen, ob das, was ich schrieb, auch angenehm sei. In Wirklichkeit aber liebte ich einzig diese Art des Ausdrucks und des Denkens. Noch mein ruheloses und unbefriedigtes Bemühen war ein Beweis der Liebe, einer Liebe, die ohne Lust war, aber um so tiefer ging. Wenn ich nun auf einmal solche Sätze im Werk eines anderen fand, das heißt ohne länger Bedenken und Strenge walten lassen und mich quälen zu müssen, gab ich mich daher mit Entzücken meiner Neigung für sie hin, so wie ein Koch, der einmal nicht selber kochen muß, endlich Zeit findet, Schlemmer zu sein. Als ich eines Tages bei Bergotte auf einen scherzhaften Satz über eine alte Dienerin gestoßen war, der durch den feierlich-pompösen Ton des Schriftstellers noch an Witz gewann, der aber der gleiche war, den ich oft meiner Großmutter gegenüber mit Bezug auf Françoise angeschlagen hatte, oder ein andermal, als ich feststellte, daß er es nicht für unter seiner Würde hielt, in einen dieserSpiegel der Wahrheit, die seine Bücher waren, eine Bemerkung aufzunehmen, wie ich sie gelegentlich über unseren Freund
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