Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit
Sterblichen wandelten, da wurde mir zugleich mit dem Rang eines Wesens wie Mademoiselle Swann bewußt, wie plump und unwissend ich ihr erscheinen müsse, und ich empfand so lebhaft das Glück und dieUnmöglichkeit für mich, ihr Freund zu sein, daß ich gleichzeitig von Verlangen und Verzweiflung erfüllt wurde. Meist, wenn ich jetzt an sie dachte, sah ich sie vor dem Portal einer Kathedrale, wie sie mir die Bedeutung der Skulpturen erklärte und mich mit einem wohlmeinenden Lächeln Bergotte als ihren Freund vorstellte. Immer auch flutete der Zauber aller Vorstellungen, die ich mit den Kathedralen, den sanften Hügeln der Îlede-France und den Ebenen der Normandie verband, auf Mademoiselle Swann zurück: das heißt, ich war schon voller Bereitschaft, sie zu lieben. Unser Glaube, daß jemand an einem unbekannten Leben teilhat, in das seine Liebe uns mit hineintragen würde, ist unter allem, was die Liebe zu ihrer Entstehung braucht, das Bedeutungsvollste, demgegenüber alles andere nur noch wenig ins Gewicht fallen kann. Selbst Frauen, die behaupten, sie beurteilten einen Mann nur nach seiner äußeren Erscheinung, sehen darin den Ausdruck einer besonderen Art von Leben. Deshalb lieben sie Soldaten oder Feuerwehrleute; die Uniform bewirkt, daß sie weniger auf das Gesicht schauen; unter dem Küraß wähnen sie ein ganz anderes, verwegeneres und liebebereiteres Herz zu küssen; und ein junger Fürst, ein Thronerbe, hat, um in den fremden Ländern, die er besucht, die schmeichelhaftesten Eroberungen zu machen, nicht das regelmäßige Profil nötig, das für einen Börsenmakler vielleicht unerläßlich wäre.
Während ich im Garten las – meine Großtante hätte nicht verstanden, daß ich das an anderen Tagen als am Sonntag tat, dem Tag, wo es verboten ist, sich mit irgend etwas Ernsthaftem zu beschäftigen, und wo sie nicht nähte (an einem Werktag hätte sie mich gefragt: »Was, du amüsierst dich mit Lesen, es ist doch schließlich nicht Sonntag«, wobei sie dem Wort »amüsieren« den Sinnvon »Kindereien nachgehen« und »seine Zeit vertrödeln« gab) –, plauderte Tante Léonie mit Françoise, während sie die Stunde des Besuchs von Eulalie erwartete. Sie teilte ihr mit, sie habe Madame Goupil »ohne Regenschirm, in ihrem Seidenkleid, das sie sich in Châteaudun 1 hat machen lassen«, vorbeigehen sehen. »Wenn sie noch lange zu laufen hat, bevor es Abend wird, könnte sie es gründlich durchweichen.«
»Vielleicht, vielleicht« (was soviel bedeutete wie »vielleicht nicht«), meinte Françoise, um die Möglichkeit einer günstigeren Alternative nicht völlig auszuschalten.
»Ach«, sagte meine Tante und schlug sich vor die Stirn, »da fällt mir ein, ich weiß ja noch immer nicht, ob sie noch vor dem Meßopfer in die Kirche gekommen ist. Ich muß unbedingt daran denken, Eulalie zu fragen … Françoise, sehen Sie nur die schwarze Wolke hinter dem Kirchturm und diesen unheilvollen Sonnenschein auf den Schindeln, sicher geht der Tag nicht ohne Regen vorbei. Es war ja auch nicht möglich, daß es so blieb, es war gar zu heiß. Je eher, desto besser sogar, denn solange das Gewitter nicht ausgebrochen ist, bleibt mir das Vichywasser auf dem Magen liegen«, fügte meine Tante hinzu, in deren Bewußtsein der Wunsch, daß das Vichywasser beschleunigt seinen natürlichen Weg nehmen möchte, unendlich viel mehr Gewicht hatte als die Furcht, Madame Goupil könne ihr Kleid verderben.
»Vielleicht, vielleicht.«
»Wenn man auf dem Platz in den Regen kommt, gibt es ja kaum eine Möglichkeit, sich irgendwo unterzustellen. Was, schon drei Uhr?« rief meine Tante plötzlich erbleichend aus, »aber dann hat die Vesper ja schon angefangen, und ich habe mein Pepsin vergessen! Jetzt verstehe ich auch, warum mir das Vichywasser so schwer im Magen liegt.«
Und während sie sich eilig auf ein in violetten Samt gebundenes, goldbeschlagenes Meßbuch stürzte, aus dem sie in ihrer Hast die mit Spitzenrand versehenen Bilder aus vergilbtem Papier herausflattern ließ, die die Festtage markierten, begann meine Tante, während sie ihre Tropfen zu sich nahm, so schnell sie konnte, die heiligen Worte zu lesen, deren Sinn ihr durch die Ungewißheit darüber, ob das so lange nach dem Vichywasser eingenommene Pepsin dieses noch erreichen und weiterbefördern werde, leicht verdunkelt wurde. »Drei Uhr, unglaublich, wie die Zeit vergeht!«
Ein leichtes Pochen an der Scheibe, als ob etwas darangestoßen wäre, gefolgt von einem
Weitere Kostenlose Bücher