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Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Titel: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Proust
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Freund, der heute abend kommt?«
    »Dumont, Großvater.«
    »Dumont! Oh, das klingt allerdings nicht sehr vertrauenerweckend.« Und er begann zu singen:

    Archers, faites bonne garde!
    Veillez sans trêve et sans bruit;

    Schützen, seid auf der Hut!
    Wacht unverzagt, ohne Lärm.
    Und nachdem er uns geschickt ein paar mehr ins einzelne gehende Fragen gestellt hatte, rief er aus: »Achtung! Achtung!«, oder wenn es das arme Opfer selbst war, das er durch ein wohlgetarntes Verhör, ohne daß jenes es merkte, zum Eingestehen seiner Herkunft gezwungen hatte, begnügte er sich damit, um uns zu zeigen, daß er sich nicht getäuscht hatte, uns anzuschauen und dabei kaum hörbar die Melodie zu summen:
    De ce timide Israélite
    Quoi, vous guidez ici les pas!

    Dieses scheuen Israeliten
    Schritte leitet ihr also hierher!
    oder:
    Champs paternels, Hébron, douce vallée.

    Heimische Felder, Hebron, sanftes Tal.
    oder auch:
    Oui je suis de la race élue. 1

    Ich bin vom auserwählten Volk.
    In diesen kleinen Eigenheiten meines Großvaters drückte sich kein Übelwollen gegen meine Freunde aus. Bloch freilich hatte meinen Eltern aus anderen Gründen mißfallen. Zunächst hatte er meinen Vater gereizt, der ihn naß bei uns eintreffen sah und daraufhin interessiert fragte:
    »Ja aber, Monsieur Bloch, was ist denn für ein Wetter? Hat es geregnet? Ich verstehe das gar nicht, das Barometer stand doch so hoch.«
    Worauf er lediglich zur Antwort erhielt:
    »Ich kann Ihnen absolut nicht sagen, Monsieur, ob es geregnet hat. Ich lebe so entschieden außerhalb all dieser physischen Kontingenzen, daß meine Sinne sich nicht einmal mehr die Mühe machen, sie zu registrieren.«
    »Mein armer Junge, dein Freund ist ja ein richtiger Idiot«, hatte mein Vater gesagt, als Bloch gegangen war. »Er kann einem ja nicht einmal sagen, was für Wetter ist! Dabei ist das doch das Allerinteressanteste! Er ist einfach schwachsinnig!«
    Auch meiner Großmutter hatte Bloch mißfallen, denn als sie nach dem Mittagessen gesagt hatte, sie fühle sich nicht ganz wohl, hatte er ein Schluchzen unterdrückt und eine Träne aus dem Augenwinkel fortgewischt.
    »Wie kann denn das aufrichtig sein, wo er mich doch nicht kennt; es sei denn, er ist nicht ganz richtig im Kopf.«
    Und schließlich hatte er es mit allen verscherzt, weil er, anderthalb Stunden verspätet und mit Schmutz bespritzt zum Mittagessen kommend, statt einer Entschuldigung nur geäußert hatte:
    »Ich lasse mich niemals durch atmosphärische Störungen oder durch die konventionelle Zeiteinteilung beeinflussen. Ich wäre durchaus bereit, den Gebrauch der Opiumpfeife und des malaiischen Kris wieder einzuführen, diese unendlich verderblicheren und zudem nur dem ideenlosen Bürgertum dienenden Instrumente wie Taschenuhr und Regenschirm aber ignoriere ich.«
    Trotz allem hätte er weiterhin nach Combray kommen können. Allerdings war er nicht der Freund, den meine Eltern für mich gewünscht hätten. Sie waren schließlich sogar zu der Ansicht gekommen, die Tränen über die Unpäßlichkeit meiner Großmutter seien echt gewesen; aber sie wußten aus Instinkt oder Erfahrung, daß die Regungen unseres Gefühls wenig über unsere Handlungen und unsere Lebensführung vermögen und daß die Beachtung moralischer Pflichten, die Treue gegen Freunde, das Vollenden eines Werks, die Befolgung einer Diät eine zuverlässigere Grundlage in blindlings eingehaltenen Gewohnheiten haben als in solchen schnell abklingenden, glühenden, unfruchtbaren Gefühlsausbrüchen. Sie hätten mir an Stelle von Bloch lieber Gefährten gewünscht, die mir nicht mehr gegeben hätten, als nach den Regeln bürgerlicher Moral einem Freund zukommt; die mir nicht unerwartet einen Korb mit Obst geschickt hätten, weil sie an dem betreffenden Tag gerade liebevoll meiner gedachten, die aber, außerstande, die unbestechliche Waage der Pflichten und die Erfordernisse der Freundschaft zu meinenGunsten zu überlasten, nur weil eine flüchtige Wallung der Phantasie oder ihres Gefühls sie dazu trieb, sie andererseits auch nie zu meinen Ungunsten beeinflußt hätten. Selbst unsere Fehler bringen solche Naturen, deren Idealtypus meine Großtante verkörperte, von dem, was sie anderen schuldig sind, kaum ab: Seit Jahren war sie mit einer Nichte zerstritten, so daß sie nie mit ihr sprach, aber weil sie nun einmal die nächste Verwandte war und weil es sich »so gehörte«, änderte sie deswegen nicht etwa ihr Testament, durch das sie dieser Nichte

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