Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Titel: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Proust
Vom Netzwerk:
Monsieur Legrandin gemacht hatte (Bemerkungen über Françoise und Legrandin, auf die ich am allerersten Bergotte gegenüber völlig verzichtet hätte, überzeugt, daß er sie ganz ohne Interesse finden müsse), kam es mir auf einmal so vor, als seien mein bescheidenes Dasein und die Bereiche des Wahren nicht ganz so weit voneinander getrennt, wie ich geglaubt hatte, ja, als ob sie sich sogar an gewissen Punkten berührten, und in einer Wallung von Zuversicht und Freude weinte ich über den Seiten des Schriftstellers wie in den Armen eines wiedergefundenen Vaters.
    Nach seinen Büchern stellte ich mir Bergotte als einen hinfälligen, enttäuschten Greis vor, der Kinder verloren und sich nie darüber getröstet hätte. Daher las ich, sang ich seine Prosa im Geiste vielleicht mit mehr Bezeichnungen wie »dolce« und »lento« versehen, als sie geschrieben sein mochte, und der geringste Satz darin sprach mich mit einem Unterton von Rührung an. Mehr als alles liebte ich seine Philosophie, ihr war ich für immer gewonnen. Sie bewirkte, daß ich mit Ungeduld auf den Zeitpunkt wartete, wo ich in die »Philosophie« benannte Klasse des Gymnasiums eintreten würde. Aber ich wollte nicht, daß man dort anderes tue, als einzig in der Gedankenwelt Bergottes zu leben, und wenn man mir gesagt hätte, daß die Metaphysiker, an die ich mich dann anschließen würde, ihm in keiner Hinsicht glichen, hätte mich die Verzweiflung eines Liebenden ergriffen, der wünscht, seine Liebe dauere ein ganzes Leben, und der von den anderen Geliebten hört, die er später haben wird. 1
    Eines Sonntags wurde ich bei meiner Lektüre im Garten von Swann gestört, der meine Eltern besuchte.
    »Was lesen Sie denn da, darf man sehen? Sieh an,Bergotte. Wer hat Sie denn auf seine Bücher aufmerksam gemacht?«
    Ich sagte ihm, daß Bloch es gewesen sei.
    »Ach ja, das ist dieser Junge, den ich hier einmal gesehen habe, er sah genau aus wie das Porträt Muhammads ii. von Bellini. 1 Ganz auffallend sogar, er hat die gleichen hochgezogenen Augenbrauen, die krumme Nase, die vorstehenden Backenknochen. Wenn er erst einmal einen Spitzbart trägt, wird er mit ihm völlig identisch sein. Auf alle Fälle hat er Geschmack, denn Bergotte ist wirklich ein bezaubernder Geist.« Und als er sah, wie sehr ich Bergotte zu bewundern schien, machte Swann, der sonst nie von den Leuten sprach, die er kannte, aus Freundlichkeit eine Ausnahme und sagte zu mir:
    »Ich kenne ihn gut, wenn es Ihnen Vergnügen macht, könnte ich ihn bitten, Ihnen ein Wort in Ihren Band dort zu schreiben.« Ich wagte nicht ja zu sagen, sondern stellte Swann Fragen über Bergotte. »Können Sie mir sagen, welchen Schauspieler er besonders schätzt?«
    »Welchen Schauspieler, weiß ich nicht. Aber ich weiß, daß er keinen männlichen Künstler für ebenso gut hält wie die Berma, die er über alle stellt. Haben Sie sie gesehen?«
    »Nein, meine Eltern erlauben mir nicht, ins Theater zu gehen.«
    »Das ist schade. Sie sollten sie darum bitten. Die Berma in Phèdre oder in Le Cid ist freilich nur eine Schauspielerin, wenn man will, aber wissen Sie, ich glaube ja nicht so sehr an die ›Hierarchie‹ 2 der Künste.« (Und wieder bemerkte ich, was mir schon in seinen Gesprächen mit den Schwestern meiner Großmutter aufgefallen war, nämlich daß Swann, wenn er von ernsten Dingen sprach, wenn er einen Ausdruck gebrauchte, der eine Meinung über einen bedeutenden Gegenstand einzuschließen schien, ihn durch einen besonderen,unverbindlichen, ironischen Ton hervorhob, als setze er ihn in Anführungsstriche und wolle ihn eigentlich nicht auf sich nehmen, sondern sagen: Die »Hierarchie«, Sie wissen ja, wie die lächerlichen Leute sagen. Wenn es aber lächerlich war, warum sagte er dann »Hierarchie«?) Gleich darauf setzte er hinzu: »Ihr Spiel wird Ihnen einen ebenso hohen künstlerischen Genuß verschaffen wie irgendein Kunstwerk, wie … ich weiß nicht, was ich sagen soll … die« – und er fing an zu lachen – »die Königinnen von Chartres!« 1 Bis dahin war mir diese seine leidenschaftliche Abneigung, ernsthaft seine Meinung zu äußern, als etwas erschienen, was offenbar sehr elegant und pariserisch war im Gegensatz zu dem provinziellen Dogmatismus der Schwestern meiner Großmutter; ich vermutete auch, daß es der geistigen Haltung jener Coterie entsprach, in der Swann lebte und in der man in Reaktion auf den Lyrismus der vorhergehenden Generationen in übertriebener Weise die einst als banal

Weitere Kostenlose Bücher