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Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Titel: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Proust
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militärisch Klügste entscheidet und sagt: »Front nach Osten.« Medizinisch gesehen durfte man, wie wenig Hoffnung überhaupt sein mochte, dieser urämischen Krise begegnen zu können, vor allem die Nieren nicht überlasten. Andererseits wurden die Schmerzen meiner Großmutter, wenn sie kein Morphium bekam, unerträglich; sie begann dann immer wieder eine bestimmte Bewegung, die sie ohne Stöhnen kaum ausführen konnte; zum großen Teil besteht der Schmerz in dem Bedürfnis des Organismus, sich einen neuen Zustand, der ihn beunruhigt, bewußt zu machen, sein Empfindungsvermögen diesem Zustand anzupassen. Man kann diesen Ursprung des Schmerzes in gewissen Fällen von Unbehagen konstatieren, die solche nicht für alle und jeden sind. Ineinem mit Rauch oder einem durchdringenden Geruch erfüllten Raum können zwei derber gebaute Menschen sich aufhalten und ihren Geschäften nachgehen; ein dritter, der feiner besaitet ist, wird unaufhörlich Unruhe verraten. Pausenlos wird seine Nase ängstlich dem Geruch nachschnüffeln, den er eigentlich versuchen müßte, möglichst nicht wahrzunehmen, den er aber durch genauere Kenntnis seinem unangenehm berührten Geruchsvermögen besser anzupassen sich bestrebt. Daher kommt es gewiß, daß starkes Beschäftigtsein mit etwas anderem den Zahnschmerz weniger fühlbar macht. Wenn meine Großmutter nun derart litt, rann der Schweiß von ihrer breiten, malvenfarbenen Stirn, auf der die weißen Haarsträhnen sich verklebten, und wenn sie glaubte, wir seien nicht im Zimmer, stieß sie Schreie aus wie: »Ach! es ist entsetzlich!«, wenn sie aber meine Mutter sah, wandte sie sofort all ihre Energie daran, auf ihrem Gesicht die Spuren des Schmerzes auszulöschen, oder sie wiederholte dieselben Klagen, setzte aber Erklärungen hinzu, die den von meiner Mutter vernommenen nachträglich einen anderen Sinn gaben.
    »Ach! mein Kind, es ist entsetzlich, daß man bei diesem schönen Sonnenschein hier liegen muß, wenn man so gern spazierengehen möchte, ich weine vor Wut über eure Verordnungen.«
    Aber die Qual in ihrem Blick, den Schweiß auf ihrer Stirn, das krampfhafte, gleich wieder unterdrückte Aufbäumen ihrer Glieder konnte sie dennoch nicht verhindern.
    »Es tut mir nichts weh, ich beklage mich nur, weil ich schlecht liege, die wirren Haare stören mich, mir ist ein bißchen übel, ich habe mich an der Wand gestoßen.«
    Meine Mutter aber, zu Füßen des Bettes, festgenagelt an diese Qual, als wolle sie mit ihrem Blick die leidende Stirn und den das Übel verbergenden Körperdurchdringen, um es endlich zu treffen und wegzuschaffen, meine Mutter sagte:
    »Nein, Mamachen, wir werden dich nicht so leiden lassen, wir werden schon etwas finden, gedulde dich noch einen Augenblick; darf ich dich küssen, wenn du dich dabei nicht zu rühren brauchst?«
    Und über das Bett gebeugt, herniedersinkend und halb knieend, als hülfe Demut, daß die leidenschaftliche Opfergabe ihrer selbst erhört werde, neigte sie in ihrem Gesicht ihr ganzes Leben zu meiner Großmutter hin, wie in einem Ciborium, das sie ihr reichte, reliefartig mit so leidenschaftlichen, so verzweifelten und so sanften Grübchen und Falten geschmückt, daß man nicht wußte, ob sie der Meißel eines Kusses, eines Seufzers oder eines Lächelns darin eingegraben hatte. Auch meine Großmutter versuchte, ihr Gesicht Mama darzureichen. Es war dermaßen verändert, daß man sie, hätte sie die Kraft gehabt auszugehen, höchstwahrscheinlich nur an der Feder ihres Huts erkannt hätte. Wie wenn man einem Bildhauer sitzt, schienen sich ihre Züge in einseitiger und ausschließlicher Bemühung einem bestimmten Modell anzupassen, das wir nicht kannten. Diese Bildnerarbeit ging ihrer Vollendung entgegen, und das Gesicht meiner Großmutter war nicht nur kleiner geworden, es hatte sich auch verhärtet. Die Adern, die es durchzogen, schienen nicht Marmoradern, sondern die eines rauheren Gesteins zu sein. Ständig nach vorn gebeugt durch die Mühe zu atmen und gleichzeitig vor Ermüdung in sich zusammengesunken, glich ihr verwittertes, geschrumpftes und grausam ausdrucksvolles Gesicht dem rohen, rötlich violetten, fuchsigen und verzweifelten Haupt einer wilden, von einem primitiven, beinahe prähistorischen Künstler geformten Grabhüterin. Doch das Werk war noch nicht gänzlich vollbracht. Es blieb noch, das Werk zu zerbrechen, und dann in dieses Grab – das man so mühevoll,in so heftiger Verkrampfung bewacht hatte – hinabzusteigen.
    In einem

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