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Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Titel: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Proust
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verstorbener Autor kann wenigstens ohne Ermüdung berühmt sein. Der strahlende Glanz seines Namens macht an seinem Grabstein halt. In der Taubheit ewigen Schlafes belästigt der Ruhm ihn nicht. Für Bergotte aber war die Antithese nicht völlig durchgeführt. Er existierte noch genug, um unter dem Tumult zu leiden. Er bewegte sich noch, freilich mit Mühe, während seine Werke, munter umherspringend wie geliebte Töchter, deren ungestüme Jugend und geräuschvolle Heiterkeit einen jedoch ermüdet, täglich neue Bewunderer bis an sein Krankenbett führten.
    Seine Besuche erfolgten für mich ein paar Jahre zu spät, denn ich bewunderte ihn nicht mehr ganz so sehr, was nicht im Widerspruch zu seinem zunehmenden Ansehen zu stehen braucht. Ein Werk ist selten schon ganz verstanden und allgemein durchgesetzt, ohne daß das eines anderen, einstweilen noch unbekannten Schriftstellers bereits begonnen hat, bei einigen wählerischen Geistern einen neuen Kult an die Stelle dessen zu setzen, dessenHerrschaft sich endlich beinahe durchgesetzt hat. In den Büchern Bergottes, die ich wieder und wieder las, standen mir die Sätze so klar vor Augen wie meine eigenen Gedanken, die Möbel in meinem Zimmer, die Wagen auf der Straße. Alle Dinge darin waren leicht zu sehen, wenn auch nicht gerade so, wie man sie immer gesehen hatte, wohl aber so, wie man sie jetzt zu sehen gewohnt war. Nun aber hatte ein neuer Schriftsteller Werke zu veröffentlichen begonnen, in denen die Dinge auf ganz andere Weise zueinander in Beziehung gesetzt waren als in mir selbst, so daß ich fast nichts von dem verstand, was er schrieb. Er sagte zum Beispiel: »Die Wasserschläuche bewunderten die schöne Unterhaltung der Straßen (und das war leicht, ich glitt diesen Straßen entlang), die alle fünf Minuten von Briand und Claudel ausgingen.« 1 Hier konnte ich nicht mehr folgen, weil ich einen Städtenamen erwartet hatte, wo ein Personennamen stand. Nur hatte ich dabei das Gefühl, daß nicht der Satz schlecht gebaut sei, sondern ich selbst nicht kraftvoll und beweglich genug, ihn bis zu Ende zu gehen. Ich versuchte es noch einmal und arbeitete mit Händen und Füßen, um bis zu dem Punkt zu gelangen, von dem aus ich die neuen Beziehungen zwischen den Dingen sehen würde. Jedesmal, wenn ich ungefähr in der Mitte des Satzes angekommen war, erschlaffte ich wie später beim Militär aus Anlaß der Übungen am »Schwebebalken«. Gleichwohl hegte ich für den neuen Schriftsteller die Bewunderung, die ein ungeschicktes Kind, das die schlechteste Note im Turnen erhält, einem anderen, geschickteren gegenüber aufbringt. Bergotte, dessen Klarheit mir nun wie Unvermögen erschien, bewunderte ich von da an weniger. Es gab eine Zeit, in der man die Dinge gut erkannte, wenn Fromentin 2 sie malte, aber nicht mehr, sobald Renoirs Hand sie schuf.
    Leute von Geschmack sagen uns heute, Renoir sei eingroßer Maler des achtzehnten Jahrhunderts. Doch wenn sie das sagen, vergessen sie die Zeit, nämlich wieviel davon sogar noch im neunzehnten vergehen sollte, bis Renoir als großer Künstler gewürdigt worden ist. Um zu solcher Anerkennung zu gelangen, muß ein origineller Maler, ein origineller Künstler vorgehen wie ein Augenarzt. Die Behandlung durch ihre Malerei, ihre Prosa ist nicht immer angenehm. Wenn sie beendet ist, sagt uns der Arzt: Jetzt sehen Sie hin! Und siehe da, die Welt (die nicht einmal erschaffen wurde, sondern so oft, wie ein origineller Künstler aufgetreten ist) kommt uns ganz anders vor als die frühere, jedoch überzeugend und klar. Frauen gehen die Straße entlang, die völlig anders aussehen als die von ehedem, weil sie Renoirs sind, eben jene Renoirs, in denen wir früher überhaupt keine Frauen erkennen wollten. Auch die Wagen sind Renoirs, das Wasser und der Himmel; wir haben Lust, in dem Wald spazierenzugehen, der uns am ersten Tag wie alles andere als ein Wald vorkam, eher zum Beispiel wie eine Stickerei mit vielen Farbtönen, in denen aber gerade diejenigen fehlten, die einen Wald ausmachen. Das ist die neue, vergängliche Welt, die jetzt erschaffen wurde. Sie wird bis zur nächsten erdgeschichtlichen Katastrophe dauern, die durch einen neuen, originellen Maler oder Schriftsteller heraufgeführt werden wird. 1
    Derjenige, der bei mir die Stelle Bergottes einnahm, hatte für mich etwas Anstrengendes nicht durch Zusammenhanglosigkeit, sondern eher durch die – völlig kohärente – Neuheit von Beziehungen, denen ich nicht nachzugehen gewöhnt

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