Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Titel: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Proust
Vom Netzwerk:
war. Der immer gleiche Punkt, an dem ich spürte, wie ich zurückfiel, zeigte mir die Identität meines jeweiligen Bestrebens an. Wenn ich im übrigen in einem von tausend Fällen dem Schriftsteller bis zum Ende des Satzes folgen konnte, so hatte das, was ich sah, immer so viel Witz, Wahrheit und Reiz wie die Dinge,die ich früher bei der Lektüre von Bergotte entdeckt hatte, doch war es weitaus bezaubernder. Ich dachte daran, daß vor noch nicht gar so vielen Jahren eine gleiche Erneuerung der Welt, wie ich sie jetzt von seinem Nachfolger erwartete, mir von Bergotte zuteil geworden war. Schließlich fragte ich mich sogar, ob die Unterscheidung eigentlich auf Wahrheit beruht, die wir immer zwischen der Kunst, die seit den Zeiten Homers nicht weitergekommen sein soll, und der Wissenschaft mit ihren unaufhörlichen Fortschritten machen. Vielleicht glich vielmehr die Kunst darin der Wissenschaft; jeder neue originelle Schriftsteller schien mir einen Fortschritt über den hinaus zu bedeuten, der ihm vorangegangen war; wer sagte mir, daß in zwanzig Jahren, wenn ich mühelos dem heute neuen würde folgen können, nicht ein anderer auftauchen würde, vor dem der gegenwärtige dann sich schnurstracks zu Bergotte gesellen würde? Diesem letzteren gegenüber erwähnte ich den neuen Schriftsteller. Er verleidete ihn mir weniger dadurch, daß er mir seine Kunst als ungefüge, oberflächlich und leer hinstellte, als daß er mir erzählte, er sei ihm begegnet und habe ihn Bloch zum Verwechseln ähnlich gefunden. Dieses Bild zeichnete sich von da an auf den Seiten des Buches ab, und ich fühlte mich nicht mehr genötigt, mich der Mühe zu unterziehen, es verstehen zu wollen. Daß Bergotte schlecht über ihn geredet hatte, geschah, glaube ich, weniger aus Neid auf seinen Erfolg als aus Unkenntnis seiner Werke. Er las beinahe nichts. Der größte Teil seines Denkens war schon aus seinem Hirn in seine Bücher übergegangen. Er war ausgezehrt, als hätte man seine Bücher aus ihm herausoperiert. Sein Fortpflanzungstrieb hielt ihn jetzt nicht mehr zur Tätigkeit an, da er fast allem, was er gedanklich in sich trug, äußere Gestalt verliehen hatte. Er führte das vegetative Leben eines Rekonvaleszenten, einer Wöchnerin; seineschönen Augen blickten unbeweglich vor sich hin, von etwas Unbestimmtem geblendet wie die Augen eines Mannes, der ausgestreckt am Meeresstrand liegt und in vager Träumerei nur jeder einzelnen kleinen Welle mit den Blicken folgt. Wenn ich im übrigen weniger Interesse an einem Gespräch mit ihm hatte, als das früher der Fall gewesen wäre, so empfand ich deswegen keine Reue. Er war so sehr Gewohnheitsmensch, daß die einfachsten wie die raffiniertesten Gepflogenheiten, wenn er sie erst einmal angenommen hatte, ihm während einer gewissen Zeit unentbehrlich wurden. Ich weiß nicht, woraufhin er ein erstes Mal gekommen war, dann aber geschah es jeden weiteren Tag, weil er es am Vortag so gehalten hatte. Er kam zu uns, wie er in ein Café gegangen wäre, damit niemand mit ihm sprach, damit er – selten genug – sprechen konnte, so daß man alles in allem kein Zeichen dafür hätte entdecken können, daß er von unserem Kummer innerlich bewegt war oder Vergnügen daran fand, mit mir zusammen zu sein, wenn man überhaupt irgend etwas aus dieser Beharrlichkeit hätte ableiten wollen. Sie verfehlte jedoch nicht, einen gewissen Eindruck auf meine Mutter zu machen, die empfänglich für alles war, was als Huldigung an ihre Patientin gelten konnte. Alle Tage sagte sie deshalb zu mir: »Vergiß vor allem nicht, ihm herzlich zu danken.«
    Wir hatten – es war dies eine diskrete frauliche Aufmerksamkeit wie die Teemahlzeit, die zwischen zwei Sitzungen die Gefährtin eines Malers reicht – als Gratisdreingabe zu den Besuchen ihres Ehemanns den von Madame Cottard. Sie kam und bot uns ihre Kammerfrau an oder erklärte sich bereit, falls wir männliche Bedienung vorzögen, »alle Hebel in Bewegung zu setzen«, und bemerkte, als wir ablehnten, sie hoffe wenigstens, das sei von unserer Seite kein »Schlupfloch«, womit in ihrem Kreis der falsche Vorwand, unter dem manEinladungen abschlägt, bezeichnet wird. Sie versicherte, der Professor, der zu Hause nie von seinen Patienten spreche, sei genauso betrübt, als handle es sich um sie selbst. Man wird später sehen, daß das, sogar wenn es auf Wahrheit beruhte, sehr wenig und sehr viel gewesen wäre von seiten des ungetreuesten und dankbarsten aller Ehemänner. 1
    Ebenso

Weitere Kostenlose Bücher