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Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Titel: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Proust
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jener Augenblicke, da man nach einem volkstümlichen französischen Ausdruck vor Verzweiflung nicht weiß, »welchem Heiligen man sich weihen soll«, als meine Großmutter viel hustete und nieste, folgten wir dem Rat eines Verwandten, der behauptete, wenn wir uns an den Spezialisten X wendeten, würden wir in drei Tagen damit über den Berg sein. Leute, die man in der Gesellschaft trifft, sagen das von ihrem Arzt, und man glaubt es, wie Françoise an die Reklameanzeigen in den Zeitungen glaubte. Der Spezialist erschien mit seinem Arztbesteck, in dem die Erkältungen seiner sämtlichen Patienten ruhten wie die Winde im Schlauch des Äolus. 1 Meine Großmutter lehnte strikt ab, sich untersuchen zu lassen. Da es uns peinlich war, den Spezialisten umsonst bemüht zu haben, gaben wir seinem ausdrücklich geäußerten Wunsch nach, unsere Nasen zu inspizieren, obschon diesen gar nichts fehlte. Er widersprach und behauptete, daß alles, ob Migräne oder Koliken, Herzkrankheit oder Diabetes, nichts als ein mißverstandenes Nasenleiden sei. Jedem einzelnen von uns sagte er: »Sie haben da eine kleine Verdickung, die ich gern wieder ansehen würde. Schieben Sie es nicht zu lange auf. Mit einer kleinen Ausbrennung befreie ich Sie davon.« Wir dachten freilich an anderes. Dennoch fragten wir uns: Befreien? Aber wovon? Kurz, unser aller Nasen waren krank. Er täuschte sich nur, insofern er diese Feststellung im Präsens machte. Denn gleich am folgenden Tage hatten seine Untersuchungen und vorläufigen Pflästerchen ihre Wirkung getan. Jeder von uns hatte seinen Katarrh. Als der Spezialist meinem Vater auf der Straße begegnete, wie er gerade von Hustenanfällen geschüttelt wurde, lächelte er bei dem Gedanken, ein Ignorant könne auf den Gedanken kommen, sein Eingreifen trage dieSchuld daran. Er hatte uns untersucht, als wir schon krank waren.
    Die Krankheit meiner Großmutter gab verschiedenen Personen Gelegenheit, ein Übermaß oder einen Mangel an Teilnahme zu beweisen, die uns ebensosehr überraschten wie die bei dieser Gelegenheit offenbar werdenden Zufalls- oder Freundschaftsbande, von denen wir nichts ahnten. Die Sympathiebezeigungen aber, die uns von Personen zuteil wurden, die unaufhörlich wissen wollten, wie es um die Patientin stand, enthüllten uns den Ernst einer Krankheit, die wir bislang nicht genügend isoliert und von den tausend schmerzlichen Eindrücken getrennt hatten, die in der Nähe meiner Großmutter auf uns eindrangen. Durch eine Depesche verständigt, verließen ihre Schwestern Combray dennoch nicht. Sie hatten einen Künstler entdeckt, der ihnen ausgezeichnet Kammermusik vorspielte, bei deren Anhören sie besser als am Krankenbett Sammlung und wehmütige Erbauung zu finden meinten, deren Form gleichwohl ungewöhnlich schien. Madame Sazerat schrieb an Mama, aber wie eine Person, die durch eine plötzlich aufgelöste Verlobung (die Auflösung lag in ihrer Parteinahme für Dreyfus) auf immer mit uns auseinandergeraten ist. Bergotte hingegen verbrachte jeden Tag mehrere Stunden mit mir.
    Er hatte immer gern eine Zeitlang hintereinander ein und dasselbe Haus aufgesucht, wo man keine Ansprüche an ihn stellte. Früher aber hatte er es getan, um dort pausenlos reden zu können, jetzt, um lange zu schweigen, ohne daß jemand ihn zum Sprechen aufforderte. Denn er war sehr krank: die einen sagten, er leide wie meine Großmutter an Albuminurie, nach anderen war er an einem Tumor erkrankt. Jedenfalls wurde er immer schwächer; mit Mühe nur erklomm er unsere Treppe, und mit noch größerer stieg er sie hinab. Obwohl er sich auf das Geländer stützte, strauchelte er oft, und ich glaube, erwäre zu Hause geblieben, hätte er nicht gefürchtet, ganz die Übung und damit die Möglichkeit solcher Ausgänge zu verlieren, er, der »Mann mit dem Spitzbärtchen«, den ich vor gar nicht sehr langer Zeit als alerten Menschen kennengelernt hatte. Er konnte kaum noch sehen und hatte sogar oft mit Sprechen Mühe.
    Zu gleicher Zeit aber hatten seine Werke, die damals, als Madame Swann noch ihre schüchternen Verbreitungsversuche patronisierte, nur besonders belesenen Leuten bekannt gewesen waren, nunmehr in aller Augen zu stattlichem Ansehen erstarkt, im großen Publikum eine außerordentliche Expansionskraft erlangt. Natürlich kommt es vor, daß ein Autor erst nach seinem Tod berühmt wird. Er aber wohnte noch lebend, in seinem langsamen Hinschreiten zum noch nicht erreichten Tod, dem Aufstieg seiner Werke zum Ruhme bei. Ein

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