Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit
Tochter wieder los, die für ein paar Wochen Paris verlassen mußte. Zu den üblichen Ratschlägen, die man in Combray der Familie eines Kranken erteilte: »Sie müßten es nur einmal mit einer kleinen Reise, einer Luftveränderung versuchen, dann kämen Sie wieder zu Appetit usw.«, hatte sie die fast einzige Idee hinzugefügt, die sie sich selbst zurechtgelegt hatte und die sie bei jeder Begegnung unermüdlich wiederholte, als wolle sie sie den anderen förmlich ins Bewußtsein hämmern: »Sie hätte sich eben von Anfang an radikal kurieren müssen.« Sie befürwortete dabei keine Art der Kur mehr als die andere, sofern sie nur radikal war. Françoise hingegen machte die Beobachtung, daß meine Großmutter wenig Medikamente erhielt. Da diese ihrer Meinung nach nur dazu dienten, einem den Magen zu verderben, war sie froh darüber, noch mehr jedoch empfand sie es als Demütigung. Sie hatte im Süden Frankreichs verhältnismäßig wohlhabendeVerwandte, deren in jugendlichem Alter erkrankte Tochter mit dreiundzwanzig Jahren gestorben war; Jahre hindurch bis zu ihrem Ende hatten die Eltern sich für Arzneien, verschiedene Ärzte und Pilgerfahrten von einem Kurort zum andern verausgabt. Das nun kam Françoise wie eine Art Luxus vor, ganz als hätten ihre Verwandten sich Rennpferde gehalten oder ein Schloß gekauft. Sie selbst, so betrübt sie waren, fanden etwas wie eine Genugtuung darin, daß sie sich solche Ausgaben gemacht hatten. Sie besaßen nichts mehr, vor allem nicht mehr, was ihnen das Kostbarste war, ihre Tochter, aber sie wiederholten doch gern, daß sie ebensoviel und mehr für sie getan hätten als die reichsten Leute. Die ultravioletten Strahlen, denen man die Unglückliche monatelang mehrmals am Tage ausgesetzt hatte, schmeichelten besonders ihrem Selbstbewußtsein. Der Vater, der trotz seines Schmerzes in diesem Ruhm geradezu schwelgte, sprach schließlich von seiner Tochter wie von einer Operndiva, für die er sich ruiniert hätte. Françoise war nicht unempfänglich für eine solche Inszenierung; diejenige, die die Krankheit meiner Großmutter umgab, schien ihr etwas ärmlich, allenfalls für eine Krankheit auf einem kleinen Provinztheater gut genug.
Es kam ein Moment, da die Wirkung der Urämie meiner Großmutter auf die Augen schlug. Ein paar Tage lang sah sie überhaupt nichts mehr. Ihre Augen wirkten dabei nicht wie die einer Blinden, sondern blieben die gleichen. Ich bemerkte es nur an einem gewissen Begrüßungslächeln, das schon einsetzte, sobald man die Tür öffnete und das bis zu dem Augenblick anhielt, da man ihre Hand ergriff, um ihr guten Tag zu sagen, einem Lächeln, das zu früh begann und stereotyp auf ihren Lippen blieb, unbeweglich und immer geradeaus gerichtet, damit es von allen Seiten her wahrnehmbar sei, weil der Blick nicht mehr da war, um es zu regulieren, ihm denrechten Moment, die Richtung anzuzeigen, es zu entfalten und je nach der Ortsveränderung oder der Miene des Eintretenden abzuwandeln; denn es blieb allein, ohne ein Lächeln der Augen, das die Aufmerksamkeit des Besuchers ein wenig von ihm abgelenkt hätte, und bekam dadurch in seiner Unbeholfenheit eine übermäßige Bedeutung: es wirkte übertrieben freundlich. Dann kehrte die Sehkraft wieder vollkommen zurück, aber von den Augen wandte sich das nomadische Leiden den Ohren zu. Ein paar Tage lang war meine Großmutter taub. Da sie Angst hatte, durch das plötzliche Eintreten von jemandem, den sie nicht hatte kommen hören, überrascht zu werden, drehte sie (obwohl sie nach der Wand lag) jeden Augenblick jäh den Kopf nach der Tür. Doch blieb diese Halsbewegung ungeschickt, denn man paßt sich nicht innerhalb weniger Tage einer Umstellung an, die bedingt, daß man Geräusche sieht oder sie wenigstens mit den Augen hört. Schließlich ließen ihre Schmerzen nach, doch die Schwierigkeit beim Sprechen nahm zu. Wir mußten meine Großmutter fast alles zweimal sagen lassen.
Als sie merkte, daß man sie nicht mehr verstand, verzichtete sie nun darauf, überhaupt etwas zu sagen, und lag unbeweglich da. Wenn sie meine Anwesenheit wahrnahm, ging ein Zucken durch ihren Körper wie bei Personen, die plötzlich an Atemnot leiden, sie wollte zu mir sprechen, brachte aber nur unverständliche Laute hervor. Im Gefühl ihrer Ohnmacht ließ sie dann den Kopf niedersinken, streckte sich flach in ihrem Bett mit ernstem, marmorgleichem Gesicht und reglos auf der Bettdecke ruhenden Händen aus oder beschäftigte sich mit einer rein
Weitere Kostenlose Bücher