Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit
in Schluchzen aus. Im Gedanken an die Worte des Arztes wollte ich sie aus dem Zimmer führen. In diesem Moment tat meine Großmutter weit die Augen auf. Ich warf mich auf Françoise, um ihre Tränen zu verbergen, während meine Eltern zu der Kranken sprechen würden. Das Geräusch des Sauerstoffs hatte aufgehört, der Arzt trat von dem Bett zurück. Meine Großmutter war tot.
Einige Stunden darauf konnte Françoise, ohne ihr damit Schmerzen zu bereiten, ein letztes Mal das schöneHaar meiner Großmutter kämmen, das eben erst ergraute und bislang weniger alt gewirkt hatte als sie selbst. Jetzt dagegen war es das einzige, was das wieder junggewordene Gesicht mit der Krone des Alters versah: die Runzeln mit allem, was so viele Jahre des Leidens ihm Verkrampftes, Angeschwollenes, Gespanntes oder Erschlafftes hinzugefügt hatten, waren daraus verschwunden. Wie in der fernen Zeit, da ihre Eltern für sie einen Gatten ausgesucht hatten, zeichneten ihre Züge das sanfte Bild von Reinheit und Fügsamkeit, ihre Wangen glühten von keuscher Hoffnung, einem Traum von Glück, ja unschuldsvoller Fröhlichkeit, die die Jahre nach und nach zerstört hatten. Das entschwundene Leben hatte die Enttäuschungen des Lebens mit sich fortgetragen. Ein Lächeln schien auf den Lippen meiner Großmutter zu liegen. Wie der Bildhauer des Mittelalters hatte der Tod sie auf dieses letzte Lager in der Gestalt eines jungen Mädchens gebettet.
ANHANG
NACHWORT DES HERAUSGEBERS
Die Aufteilung von Prousts Roman in einzelne Bände gehorcht nicht nur kompositorischen Prinzipien, sondern auch verlegerischen Zwängen. Wie schon bei der Drucklegung von Swann , sah sich Proust angesichts der wachsenden Textmasse bei Guermantes gezwungen, die vorgesehene Gliederung abzuändern. Während der erste Band der Recherche um einen Teil beschnitten wurde und einen neuen Schluß erhielt, bricht Guermantes mitten in einer Erzählsequenz ab und setzt im folgenden Band ebenso unvermittelt wieder ein. Le côté de Guermantes I erschien im Oktober 1920, Le côté de Guermantes II zusammen mit Sodome et Gomorrhe I im Mai 1921. Der scheinbar willkürliche Schnitt läßt jedoch gewisse Bedeutungszusammenhänge deutlicher zutage treten, als es ein nicht aufgeteilter Band »Guermantes« getan hätte. Mit dem Schlaganfall der Großmutter am Ende von Guermantes I geht die Jugendzeit des Romanhelden zu Ende. Befreit von der umsorgenden Aufsicht einer moralischen Instanz wird Marcel in der Folge die Welt erkunden und erfahren können. Auch der 1921 erschienene Band bildet in einem gewissen Sinn eine Einheit, indem der erste Teil von Sodom und Gomorra , der den Band beschließt, nicht nur im Hinblick auf die folgenden, sondern auch im Rückblick auf die vorangehenden Romanteile gelesen werden kann; er liefert nämlich die Erklärung der in Guermantes II besonders zahlreichen Anspielungen auf das Thema Homosexualität. Guermantes weist auf Sodom voraus. Sozusagen im Gegenzug gehört die Soiree bei der Fürstin von Guermantes, die in dem ersten Kapitel des 1922 erschienenen Bandes Sodome et Gomorrhe II erzählt wird, eher zu der Welt von Guermantes als zu Sodom und Gomorra. Trotz all dieser Verbindungen und Verschränkungen kann jeder einzelne der sieben Teile der Recherche als ein eigenständiges, durchkomponiertes Ganzes gelesen werden.Die Ouvertüre zu Guermantes besteht aus zwei Teilen. Zu Beginn macht sich die Welt, die in der Folge den Text mit ihrem Lärm, ihrem Gelärme und Gerede, erfüllt, nur leise – mit morgendlichem Vogelgezwitscher und einem in der Ferne aufklingenden Lied – bemerkbar. In Abwandlung einer gewöhnlich auf den Romanhelden bezogenen Situation läßt Proust Françoise im ungewohnten Klang dieser Geräusche die Qual einer ungewohnten Umgebung erleiden, der neuen Wohnung nämlich, in die Marcels Familie mit Rücksicht auf die Gesundheit der Großmutter eingezogen ist und die in einem Nebenbau des Guermantesschen Stadtpalais’ liegt. Nach diesem auf Françoise bezogenen musikalischen Auftakt setzt Proust neu ein. Es folgen die Phantastereien Marcels, die den Namen Guermantes seit der frühen Zeit in Combray in immer neuen Farben erscheinen lassen.
Die Annäherung an die wirklichen Guermantes und die große Welt, die sie verkörpern, das heißt den Faubourg Saint-Germain, vollzieht sich über zwei in sich verschlungene Handlungsstränge, ein Kompositionsmuster, das schon zu Beginn der Jeunes filles zur Anwendung kam. Dort verknüpft Proust das
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