Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit
Gesellschaftsszenen, die erst am Ende der Recherche mit der Matinee bei der Fürstin von Guermantes beschlossen wird. Ausgehend von der Salonchronik, in der er sich mit seinen Figaro -Artikeln der Jahre 1903 und 1904 geübt hat, und den Routs Balzacs, die er 1908 in einem weiteren Figaro -Artikel pastichiert, formt Proust aus der Gesellschaftsszene ein erzählerisches Instrument, das ihm erlaubt, verschiedene Handlungsstränge und Themenkomplexe zu organisieren und zu entwickeln. Im Zentrum dieser ersten Szene steht der Künstler in seiner Beziehung zur Welt. Nicht von ungefähr schreibt Mme. de Villeparisis an ihren Memoiren und malt sie inmitten des Kreises ihrer Besucher Blumenaquarelle. Norpois’ Auffassung von Kunst sowie Prousts Erinnerung an den Salon von Madeleine Lemaire finden hier ihre genaue Inszenierung. Im Hinblick auf den eigentlichen Faubourg Saint-Germain bildet Mme. de Villeparisis’ Salon eine Art Vorstufe oder – je nach Gesichtspunkt – Vorhölle. Aus dem Hochadel verkehren hier nur einige nahe Verwandte der Hausherrin; im übrigen setzt sich der Besucherkreis aus Diplomaten wieNorpois, Literaten wie Bloch, Wissenschaftlern und Künstlern zusammen. Immerhin erhält Marcel endlich Gelegenheit, das Objekt seiner Träume aus der Nähe zu betrachten, wobei die eisige Begrüßung durch Mme. de Guermantes und ihre banausischen Auslassungen über Maeterlinck alle Phantastereien und Illusionen zusammenbrechen lassen: Die Königin des Faubourg ist nichts anderes als eine dumme Pute.
Eine für Marcel noch unverständliche, für den Leser aber überdeutliche Szene mit M. de Charlus, der Marcel nun schon zum zweiten Mal vorschlägt, die moralische Führung seines Lebens zu übernehmen, beschließt den ereignisreichen Tag.
Die folgende Episode, »Krankheit und Tod der Großmutter«, steht im Zentrum von Guermantes ; sie ist gleichzeitig ein thematisches Zentrum der ganzen Recherche . Innerhalb der Geschichte Marcels markiert sie das Ende der behüteten und überwachten Jugendzeit, und sie bildet den Grund jenes schmerzvollen Augenblicks unwillkürlicher Erinnerung in Sodom und Gomorra II , den Proust mit dem ursprünglich für das Romanganze vorgesehenen Titel als »intermittences du cœur« bezeichnet. Auf biographischer Ebene erinnert die Episode an den Tod der Mutter, der für das Aufbrechen von Prousts schöpferischer Energie von wohl entscheidender Bedeutung war. Am literarischen Horizont treten die Todesszenen Tolstojs oder Maeterlincks, mit denen sich Proust in Freuden und Tage (beispielsweise in »Der Tod des Baldassare Silvande« oder in »Das Ende der Eifersucht«) auseinandergesetzt hat, hinter dem flaubertschen Modell zurück. Wie Flaubert in Madame Bovary , schreibt Proust gleichzeitig eine Todesszene voller genauer pathologischer sowie psychologischer Beobachtung und eine beißende Ärzte- und Gesellschaftssatire.
Nach dem Tod der Großmutter überspringt die Erzählung einige Monate und setzt im zweiten Kapitel von Guermantes II neu ein. Für den Neuanfang verwendet Proust jene seit den Entwürfen zum Contre Sainte-Beuve vorbereitete Situation, in der beim Aufwachen die atmosphärischen Verhältnisse den Gedanken und Träumereien Marcels eine bestimmte Richtung geben. An diesem nebligen Herbstmorgen erinnert er sich an Doncières und träumt von einem Liebesabenteuer mit Mme. de Stermaria.Fürs erste jedoch taucht Albertine auf, die sich von Marcel jetzt, da er sie nicht mehr liebt, küssen läßt, was ebenso minutiös, mit ebensolcher Liebe zum anatomischen, pathologischen und psychologischen Detail beschrieben wird wie kurz zuvor das Sterben der Großmutter. Parallel dazu öffnen sich Marcel jetzt, da er Mme. de Guermantes nicht mehr liebt, die bisher verschlossenen Tore ihres Salons. Auf einer Abendgesellschaft bei Mme. de Villeparisis wird Marcel von der Herzogin zu einem Diner eingeladen. Marcels Gedanken sind jedoch auf Mme. de Stermaria fixiert, die er zu einem Diner auf der Schwaneninsel im Bois de Boulogne einlädt. Als sich die Dame im letzten Augenblick entschuldigt, findet Marcel Trost bei Robert de Saint-Loup, der ihn beim Souper in einem eleganten Restaurant seinen adligen Freunden vorstellt. Es sind lauter Episoden und Szenen, die Marcels Fixierung auf die Welt, seinen gesellschaftlichen Ehrgeiz und seine mondäne Eitelkeit erzählen, lauter Beispiele für »temps perdu«, weniger im Sinn von verlorener als von eigentlich vertaner Zeit.
Beinahe die Hälfte des
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