Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit
Minute die Rede. Vielmehr hielten wir an der stillschweigenden Übereinkunft fest, ich hätte nicht gesehen, wie er mich auszuspähen versuchte. Ein Priester hat wie ein Irrenarzt immer etwas von einem Untersuchungsrichter. Doch wo ist der Freund, und sei er uns noch so lieb, bei dem es in der Vergangenheit, die wir mit ihm gemeinsam haben, nicht solche Minuten gäbe: Minuten, von denen wir aus Bequemlichkeit lieber annehmen, er habe sie vergessen?
Der Arzt nahm eine Morphiuminjektion vor und ließ zur Erleichterung der Atmung Sauerstoff kommen. Meine Mutter, der Doktor, die Schwester hielten die Beutel; sobald einer aufgebraucht war, reichte man ihnen einen anderen. Ich war einen Augenblick aus dem Zimmer gegangen. Als ich wieder zurückkam, war etwas wie ein Wunder geschehen: zu der Begleitung eines gedämpften Surrens schien meine Großmutter an uns einen langen seligen Sang zu richten, der das Zimmer rasch mit seiner Musik durchwob. Ich begriff bald, daß er kaum weniger unbewußt war und ebenso mechanisch wie vorher das Röcheln. Vielleicht spiegelte er ganz schwach eindurch das Morphium bewirktes Wohlgefühl wider. Er ergab sich vor allem, da die Luft nicht mehr in ganz der gleichen Weise durch die Bronchien ging, aus einem Registerwechsel in der Atmung. Durch die Doppelwirkung des Sauerstoffs und des Morphiums befreit, kam der Atem meiner Großmutter nicht mehr gequält und stöhnend aus ihrer Brust, sondern glitt rasch und leicht wie ein Schlittschuhläufer dem köstlichen Fluidum zu. Vielleicht mischten sich unter ihren Hauch, der so fühllos war wie der Wind in der Flöte eines Schilfrohrs, in diesem Gesang ein paar menschlichere Seufzer, die, beim Nahen des Todes sich lösend, wie Regungen von Leid oder Glück eines Wesens wirken, das schon nicht mehr fühlt, und fügten, ohne dessen Rhythmus zu verändern, einen melodischeren Klang zu dem langausgesponnenen Thema hinzu, das immer höher anstieg, dann wieder heruntersank, um gleich darauf aus der leicht gewordenen Brust von neuem dem Sauerstoff nachzueilen. Dann, wenn er ganz hoch oben angelangt war und mit Macht die hohe Note hielt, schien der Gesang, mit einem wie in höchster Lust flehentlichen Flüstern vermischt, für Augenblicke überhaupt zu vergehen, so wie eine Quelle versiegt.
Wenn Françoise einen großen Kummer hatte, verspürte sie, obwohl ihr diese einfache Kunst versagt war, den so überflüssigen Drang, ihn auszudrücken. Da sie meine Großmutter völlig aufgab, legte sie Wert darauf, uns ihre eigenen Regungen bekanntzugeben. So wiederholte sie immer nur: »Es ist mir wirklich sehr arg«, ganz in dem gleichen Ton, in dem sie nach zu reichlichem Genuß von Kohlsuppe sagte: »Sie liegt mir schwer im Magen«, was in beiden Fällen nicht so staunenswert war, wie sie zu meinen schien. Trotz solch schwacher Übersetzung war ihr Schmerz doch sehr groß, vermehrt außerdem durch den Verdruß, daß ihre Tochter, die noch inCombray festgehalten wurde (das die frischgebackene Pariserin jetzt »cambrousse«, das heißt »Krähwinkel«, nannte und wo sie sich »pétrousse«, das meint »wie ein Bauernlümmel«, vorkam), wahrscheinlich nicht zur Trauerfeier werde kommen können, von der Françoise sich etwas Großartiges versprach. Da sie unsere geringe Neigung zu Herzensergüssen kannte, hatte sie sich für alle Fälle im voraus Jupien für alle Abende der Woche bestellt. Sie wußte, daß er zur Stunde der Beisetzung nicht frei sein werde, und sie wollte ihm wenigstens nach ihrer Heimkehr »davon berichten«.
Schon mehrere Nächte wachten mein Vater, mein Großvater und einer meiner Vettern bei meiner Großmutter und gingen nicht mehr aus dem Haus. Ihre fortgesetzte Aufopferung legte schließlich eine Maske der Gleichgültigkeit an, und die unaufhörliche Untätigkeit neben dem Sterbebett ließ sie Gespräche führen, wie sie auch etwa von langen Eisenbahnfahrten nicht fortzudenken sind. Im übrigen weckte in mir dieser Vetter (ein Neffe meiner Großtante) ebensoviel Antipathie, wie er gemeinhin an verdienter Achtung entgegengebracht bekam.
Er »war immer da« bei ernsten Anlässen und so unermüdlich am Sterbebett, daß die betroffenen Familien, da die Ansicht bestand, er sei, trotz seines robusten Aussehens, seiner Baßstimme und seines Feuerwehrmannbartes, von etwas zarter Gesundheit, ihn immer in den üblichen umschreibenden Formeln beschworen, nicht zur Beerdigung zu kommen. Ich wußte im voraus, daß Mama, die auch im unermeßlichsten Schmerz
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