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Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Titel: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Proust
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an die anderen dachte, ihm auf eine ganz andere Art nahelegen werde, was er zu hören gewohnt war:
    »Versprechen Sie mir, daß Sie ›morgen‹ nicht kommen. Tun Sie es ›ihr‹ zuliebe. Gehen Sie wenigstens nicht mit ›dorthin‹. Sie hätte Sie gebeten, nicht zu kommen.«
    Nichts half; er war immer der erste im »Haus«, weshalb man ihm in einem anderen Kreis einen Beinamen gegeben hatte, den wir nicht kannten: man nannte ihn die »verbetene Blumenspende«. Und bevor er zu »allem« ging, hatte er an »alles gedacht«, was ihm die Worte eintrug: »Ihnen kann man gar nicht danken.«
    »Wie?« fragte mit kräftiger Stimme mein Großvater, der etwas schwerhörig geworden und dem etwas entgangen war, was mein Vetter zu meinem Vater sagte.
    »Ach, weiter nichts«, gab der Vetter zurück. »Ich habe nur erzählt, daß ich heute früh einen Brief aus Combray bekommen habe, wo schauderhaftes Wetter ist, während es hier sonnig und zu heiß ist.«
    »Und doch steht das Barometer sehr tief«, warf mein Vater ein.
    »Wo, sagst du, ist schlechtes Wetter?« wollte mein Großvater wissen.
    »In Combray.«
    »Ach! Das wundert mich nicht, jedesmal, wenn wir hier Regen haben, ist es in Combray schön, und umgekehrt. Mein Gott, ihr sprecht von Combray: hat jemand daran gedacht, Legrandin zu benachrichtigen?«
    »Ja, machen Sie sich keine Sorge, es ist schon geschehen«, sagte mein Vetter, dessen von einem zu starken Bart bräunlich schimmernde Wangen sich zu einem unmerklichen Lächeln der Befriedigung darüber verzogen, daß er daran gedacht hatte.
    In diesem Augenblick stürzte mein Vater hinaus, ich glaubte, es sei eine Besserung oder eine Verschlimmerung eingetreten. Es war aber nur Doktor Dieulafoy, der eben ankam. Mein Vater ging in den benachbarten Salon und begrüßte ihn wie einen Schauspieler, der im Hause auftreten soll. Man hatte ihn kommen lassen, nicht um zu behandeln, sondern um zu konstatieren, als eine Art Notar. Doktor Dieulafoy mag tatsächlich ein großer Arzt, einwundervoller Lehrer gewesen sein; zu diesen verschiedenen Rollen, in denen er sich auszeichnete, fügte er noch eine weitere hinzu, in der er vierzig Jahre hindurch unerreicht dastand, eine ebenso klar umrissene Rolle wie die des Vernünftigen, des Bramarbas oder des Heldenvaters; sie bestand darin, den Eintritt der Agonie oder den Tod festzustellen. Schon sein Name wies auf die Würde hin, mit der er seines Amtes waltete, und wenn die Dienerin ankündigte: »Monsieur Dieulafoy«, glaubte man sich in einem Stück von Molière. Zur Würde seiner Haltung trug auch noch die diskrete Eleganz seiner bezaubernden Erscheinung bei. Die an sich etwas zu auffällige Schönheit seines Gesichts wurde durch die Anpassung an den traurigen Anlaß gedämpft. In seinem noblen schwarzen Gehrock trat der Professor ein, traurig ohne Künstelei, sprach niemandem eine Teilnahme aus, die nicht aufrichtig wirkte, und beging nie den leisesten Verstoß gegen den gebotenen Takt. Zu Füßen eines Sterbebettes war er und nicht der Herzog von Guermantes der Grandseigneur. Nachdem er meine Großmutter untersucht hatte, ohne sie zu ermüden und mit einer Zurückhaltung, die ein Akt der Höflichkeit dem behandelnden Arzt gegenüber war, sprach er ein paar leise Worte zu meinem Vater, verbeugte sich respektvoll vor meiner Mutter, zu der, wie ich deutlich fühlte, mein Vater um ein Haar gesagt hätte: »Professor Dieulafoy.« Doch schon hatte dieser den Kopf abgewandt, da er sich nicht vordrängen wollte, und trat in denkbar bester Form wieder ab, indem er schlicht das Kuvert mit der Gage einsteckte, das man ihm übergab. Es sah dabei so aus, als habe er es überhaupt nicht bemerkt, und wir selbst fragten uns einen Augenblick, ob wir es ihm wirklich gegeben hätten, mit einer so taschenspielerhaften Geschicklichkeit ließ er es verschwinden, ohne auch nur das geringste einzubüßen von dem höchstens noch gesteigerten Ernst des berühmten Konsiliarius in seinem langenGehrock mit Seidenaufschlägen und mit seinem schönen Kopf voll edlen Mitgefühls. Seine Gelassenheit und seine Lebhaftigkeit zeigten, daß er, wenn er auch noch hundert Besuche vor sich hatte, nicht den Eindruck erwecken wollte, er sei in Eile. Denn er war der Takt, die Einsicht und die Güte selbst. Dieser hervorragende Mann ist nicht mehr. Andere Ärzte, andere Professoren mögen ihn erreicht und vielleicht übertroffen haben. Doch das »Rollenfach«, in dem sein Wissen, seine körperlichen Vorzüge, seine

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