Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit
Textvolumens von Guermantes II wird von einer einzigen Gesellschaftsszene, dem Diner bei den Guermantes, eingenommen. Nach dem deklassierten Salon Mme. de Villeparisis’ betritt Marcel nun endlich die Welt jenseits der Fußmatte im Vestibül der Guermantes, das heißt den wahren Faubourg Saint-Germain. Was er aber dort antrifft, ist nicht jene Versammlung fabelhafter Wesen, die ein Mysterium zelebrieren, es sind recht gewöhnliche, wenn nicht sogar vulgäre Damen und Herren, die sich über ganz gewöhnliche Dinge auf äußerst gewöhnliche Art und Weise unterhalten. Allerdings läßt Proust seinen Romanhelden zu Beginn des Besuchs vor den Elstirs der Guermantes einen ruhigen Augenblick finden, bevor sich dann der Herzog von Guermantes sehr laut – und sehr lustig – über die Malerei Elstirs ausläßt. Aus der Eintönigkeit des gesellschaftlichen Geredes ragen die Sprüche der Herzogin heraus, die von aller Welt bewundert werden. Wie beim Familienkreis in Combray oder beim kleinen Kreis der Verdurins stellt Proust auch in der Welt der Guermantes die Sprache ins Zentrum seiner Gesellschaftssatire.
Guermantes schließt mit zwei Szenen, in denen sichkomische und tragische Elemente miteinander verbinden. In der ersten zertrampelt Marcel im Zorn über das unerklärliche Verhalten des Barons von Charlus dessen Zylinder; in der zweiten tritt der todkranke Swann ein letztes Mal auf, witzelt ein letztes Mal mit der Herzogin und wird schließlich von den Guermantes stehengelassen, die sich nur noch um die »roten Schuhe der Herzogin« kümmern.
Das Ende von Guermantes ist kunstvoll mit dem folgenden Band der Recherche verbunden. Vor der Szene mit Swann macht Marcel eine Entdeckung von solcher Tragweite, daß Proust den Bericht darüber aufschiebt und kurz die restlichen Ereignisse des Tages erzählt. Dadurch wird die Begegnung von Charlus und Jupien zur Eröffnungsszene von Sodom und Gomorra .
Die in Guermantes erzählten Ereignisse erstrecken sich über einen Zeitraum von zweieinhalb Jahren. Bezieht man die Handlung auf das reale Zeitgeschehen, was dank der Anspielungen auf die Dreyfus-Affäre bis zu einem gewissen Grad möglich ist, so läßt sich der Einzug in die neue Wohnung zu Beginn des Bandes auf den Spätsommer 1897 datieren. Der Abend in der Opéra findet im Herbst, der zweiwöchige Aufenthalt in Doncières im Dezember 1897 statt. Der ausführlich beschriebene Tag mit dem Empfang bei Mme. de Villeparisis spielt einige Tage vor Ostern, »Krankheit und Tod der Großmutter« einige Wochen später im Sommer 1898. Die Ereignisse im zweiten Kapitel von Guermantes II liegen in einer Herbstwoche desselben Jahres, mit Ausnahme der Szene mit den roten Schuhen, die »etwa zwei Monate später« spielt, das heißt im Frühjahr 1899.
In einem gewissen Sinn beginnt die Arbeit an Guermantes mit Prousts literarischen Anfängen. So können beispielsweise – in ironischem Widerspruch zum Titel – die beiden »Verlorenen Formen« aus Freuden und Tage (1896) als ein erster Entwurf zu den Porträts der Herzogin und der Fürstin von Guermantes angesehen werden. Ebenso finden die Genrebilder aus der Doncières-Episode in den »Genrebildern der Erinnerung« aus Prousts Erstling eine frühe Vorstufe. UmfangreichesTextmaterial zu den in Guermantes entwickelten Themen und Szenerien findet sich sodann in dem zwischen 1895 und 1899 entstandenen Romanfragment Jean Santeuil , besonders den Teilen »Garnisonsstädte«, »Die Réveillons«, »Jeans Leben in der großen Welt« und »Figuren der großen Welt«. Auch die Salonchroniken aus den Jahren 1903 und 1904 sind Vorstufen zu den großen Gesellschaftsszenen der Recherche , und aus dem 1907 in Le Figaro erschienenen Artikel »Tage des Lesens« hat Proust das Bravourstück über die Telephonfräuleins, das seinerseits auf einen Entwurf zu Jean Santeuil zurückgeht, sowie eine Passage über die Poesie der Namen übernommen.
Unter den Entwürfen, mit denen zu Beginn des Jahres 1908 die eigentliche Arbeit an der Recherche einsetzt und die Proust in dem sogenannten Carnet de 1908 auflistet, finden sich neben Szenen aus der »Welt von Swann« auch solche aus der »Welt der Guermantes«, beispielsweise die Betrachtungen über die Enkelin Louis-Philippes und das Schloß Fantaisie. Auch die Phantastereien Marcels zu Namen und Genealogien sind durch zahlreiche Notizen in Prousts Taschenagenda vorbereitet. In den ersten Entwurfheften zur Recherche , den sogenannten Cahiers Sainte-Beuve (1909), ist
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