Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit
Abendessen mit Norpois und Marcels Theaterbesuch, hier die Gespräche über die Guermantes in der Küche unter der Dienerschaft und die Phantastereien Marcels, für den – als ironische Pointe seiner Phantasievorstellungen – die Fußmatte im Vestibül des Guermantesschen Palais’ die eigentliche Schwelle zum Faubourg Saint-Germain darstellt.
Zum erstenmal erblickt Marcel die Welt, von der er träumt, anläßlich eines Theaterbesuchs in der Opéra. Proust macht daraus eine der spektakulärsten Szenen seines Romans. Wie er es in einer frühen musikalischen Chronik aus dem Jahr 1895 erprobt hat und wie es bei zeitgenössischen Malern zu sehen ist – man denke an Degas, Renoir oder Toulouse-Lautrec – läßt Proust die große Welt sich im Zuschauerraum eines Theaters zur Schau stellen. Daraus entsteht ein literarisches, aus der doppelten Bedeutung des Wortes »baignoire« (»Parkettloge« und »Badewanne«) heraus entwickeltes Bravourstück. Die Logen werden zu Grotten, die eleganten Damen zu Nereiden und die befrackten Herren zu Tritonen; es ist, als würde im Zuschauerraumeine Opéra bouffe von Offenbach inszeniert. Gleichsam nebenbei wird auch auf der Bühne gespielt, und ebenso beiläufig entdeckt Marcel, worin das Geheimnis der Schauspielkunst besteht, denn diesmal konzentriert er sich nicht mehr wie bei seinem ersten Theaterbesuch krampfhaft auf das Spiel der Berma, so daß er vom Genie der Künstlerin unmittelbar berührt werden kann. Wichtiger jedoch als die Kunst der Berma ist für den Handlungsverlauf jenes blitzende Lächeln, mit dem die Herzogin von Guermantes aus der Loge ihrer Kusine heraus den jungen Mann im Parkett grüßt und diesen in schwärmerischer Liebe entbrennen läßt.
Von nun an unternimmt Marcel täglich Morgenspaziergänge, um der Herzogin zu begegnen, einen Blick von ihr zu erhaschen, ja einen Gruß zu erzwingen. Wer durch die Schilderung einer krankhaften Schwärmerei hindurchliest, entdeckt eine Reihe von Porträtskizzen und Pariser Straßenszenen, die von Bonnard stammen könnten.
Es folgt – eingelassen in die Erzählsequenz der Morgenspaziergänge – die Episode in der Garnisonsstadt Doncières. Sie ist zwar durch die Versuche Marcels, über Robert de Saint-Loup mit der Herzogin von Guermantes in Kontakt zu treten, in die Haupthandlung eingebunden, bildet aber innerhalb des Romanganzen eine Art Mikrokosmos. Neben Marcels Ängsten in einem neuen Zimmer, neben den Betrachtungen über Schlafen, Träumen und Erwachen, über die Stille, über das Wahrnehmen von Geräuschen trifft man auf Szenen aus dem Soldatenleben in einer kleinen Garnisonsstadt, Diskussionen über die Dreyfus-Affäre, wie sie Proust schon in Jean Santeuil entworfen hat, sowie auf Betrachtungen über die Kriegskunst, die ein direktes Echo bilden auf die Berichterstattung über den Ersten Weltkrieg. Ein Telephongespräch mit der Großmutter (das von Proust mehrmals verwendete Bravourstück über die Telephonfräuleins), das Marcel bestimmt, sogleich nach Paris zurückzukehren, beschließt die Doncières-Episode.
Bei seiner Rückkehr nach Paris trifft Marcel auf eine von Alter und Krankheit gezeichnete Großmutter und auf einen Vater, der ihn nun plötzlich dazu drängt, eine literarische Karriere zu ergreifen und den Salon von Mme. de Villeparisis zu besuchen,weil das nach der Meinung des Marquis von Norpois für eine solche Karriere förderlich ist. Einmal mehr stehen die Romanfiguren antithetisch zueinander : Für die Großmutter, deren Einfluß nun zu Ende geht, braucht Kunst schützende Abgeschiedenheit, für den Vater, das heißt für Norpois, dessen Meinungen er vertritt, entsteht Kunst mitten in der Welt. Nach erfolglosen Versuchen, Robert für sich einzuspannen, nimmt Marcel seine morgendlichen Spaziergänge wieder auf.
Die folgenden Episoden und Szenen hat Proust in dem zeitlichen Rahmen eines ausführlich beschriebenen Tages zusammengefaßt: Während ein Spaziergang mit Robert in der Pariser Banlieue und Marcels Ekstase vor blühenden Obstbäumen Proust Gelegenheit zu einer weiteren, schon öfters erprobten Stilübung geben, sind die Szenen mit und zwischen Robert und dessen Freundin, die auf biographischer Ebene an Prousts Beziehung zu Bertrand de Fénelon erinnern, Anlaß zu psychologischen, soziologischen und ästhetischen Betrachtungen über Liebe, Freundschaft, Snobismus und Künstlertum.
Der Besuch bei Mme. de Villeparisis an einem ihrer Empfangstage eröffnet die Reihe von großen
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