Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit
vortreffliche Erziehung ihm solche Triumphe verschafften, existiert nicht mehr, weil die Nachfolger fehlten, die es hätten aufrechterhalten können. Mama hatte Doktor Dieulafoy nicht einmal bemerkt, da außer meiner Großmutter nichts für sie existierte. Ich erinnere mich (und hier greife ich vor), daß auf dem Friedhof, wo man sie wie eine überirdische Erscheinung schüchtern zum Grabe treten sah und sie selbst einem entschwundenen Wesen nachzublicken schien, das schon weit entfernt von ihr war, mein Vater zu ihr sagte: »Norpois war im Haus, in der Kirche und auf dem Friedhof, er hat eine für ihn äußerst wichtige Sitzung versäumt, du solltest ihm ein Wort sagen, er wäre sicher sehr empfänglich dafür«, meine Mutter jedoch, als der Botschafter sich vor ihr verbeugte, nur ihr tränenlos sanftes Gesicht zu neigen imstande war. Zwei Tage zuvor – um noch einmal vorzugreifen, bevor ich an das Bett, in dem die Kranke in den letzten Zügen lag, zurückkehre –, während man bei meiner verstorbenen Großmutter die Totenwache hielt, schrak Françoise beim leisesten Geräusch zusammen, denn sie lehnte nicht unbedingt den Glauben an Geister ab, und sagte: »Ich habe das Gefühl, das ist sie.« Aber anstelle von Grauen flößten diese Worte meiner Mutter, die so gern gewollt hätte, die Toten kehrten wieder, um ihre Mutter zuweilen in ihrer Nähe zu wissen, nur unendlich süße Gefühle ein.
Doch kehren wir zu den letzten Stunden der Sterbenden zurück. Mein Großvater fragte meinen Vetter:
»Wissen Sie, was ihre Schwestern uns telegraphiert haben?«
»Ja, Beethoven! Ich habe es gehört; man sollte es einrahmen lassen, aber ich wundere mich nicht.«
»Meine arme Frau, die so sehr an ihnen hing«, sagte mein Großvater und trocknete sich eine Träne ab. »Man darf ihnen nicht böse sein. Sie sind total verrückt, ich habe es immer gesagt. Was ist los, gibt man ihr keinen Sauerstoff mehr?«
Meine Mutter meinte:
»Aber dann wird Mama wieder mühsam atmen.«
Der Arzt antwortete ihr:
»O nein! Die Wirkung des Sauerstoffs hält noch eine Weile an, wir fahren dann später damit fort.«
Mir schien, niemand würde das sagen, wenn es sich um eine Sterbende handelte, und wenn die gute Wirkung anhielt, so müsse das bedeuten, daß man noch etwas über ihr Leben vermochte. Das Zischen des Sauerstoffs hörte ein paar Sekunden lang auf. Aber die beglückte Klage der Atmung strömte immer weiter, leicht, stockend, unvollendet, immer wieder beginnend. Dann wieder schien alles zu Ende zu sein, der Atem hielt an, sei es wegen der gleichen Umschaltung der Register wie in der Atmung eines Schlafenden, sei es infolge einer naturbedingten Unregelmäßigkeit, der Wirkung der Anästhesie, der fortschreitenden Asphyxie, oder durch ein Versagen des Herzens. Der Arzt griff wieder nach dem Puls meiner Großmutter, doch schon war es, als münde, den versiegenden Strom auffüllend wie ein Nebenfluß, ein neuer Gesang in das unterbrochene Thema ein. Dieses aber setzte sich nun in einer anderen Tonart, doch mit dem gleichen unerschöpflichen Aufschwung fort. Wer weiß, ob nicht, sogar meiner Großmutter unbewußt, zahllose glückliche undzärtliche Regungen, die durch das Leiden so lange hintangehalten waren, jetzt sich aus ihr lösten wie jene leichteren Gase, die sich vordem unter Druck eingeschlossen befanden? Man hätte meinen können, daß alles, was sie uns zu sagen hatte, jetzt aus ihr herausströmte, daß sich dieser beredte Eifer, diese Mitteilsamkeit an uns wendete. Am Fuß des Bettes, gekrümmt von jedem Ansturm dieser Agonie, nicht weinend, doch immer wieder von Tränen benetzt, hatte meine Mutter etwas von dem gedankenlosen Jammer eines Blattes, das der Regen peitscht und das vom Wind hin- und hergezerrt wird. Man hieß mich meine Augen trocknen, bevor ich meine Großmutter noch einmal küßte.
»Und ich dachte, sie sieht nichts mehr«, meinte mein Vater.
»Man kann nie wissen«, antwortete der Arzt.
Als ich mit den Lippen meine Großmutter berührte, bewegten sich ihre Hände und ein langer Schauer durchlief ihren ganzen Körper, vielleicht war es ein Reflex, vielleicht aber haben auch gewisse zärtliche Gefühle ihre Hyperästhesie, die durch den Schleier der Unbewußtheit hindurch erkennt, was zu lieben sie der Sinne beinahe nicht bedarf. Plötzlich richtete meine Großmutter sich halb auf und machte eine heftige Bewegung wie jemand, der sein Leben verteidigen will. Françoise hielt diesem Anblick nicht stand, sie brach
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