Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit
bereits von Marcels Liebe zu einer Gräfin die Rede, und schon 1910 entsteht (in den Cahiers 39 bis 43) eine erste zusammenhängende Fassung des Guermantes-Teiles: Einzug in eine neue Wohnung, Phantastereien Marcels zum Namen Guermantes, Matinee bei Mme. de Villeparisis, im Theater mit Montargis (dem zukünftigen Saint-Loup) und dessen Freundin, Theaterabend in der Opéra-Comique, Aufenthalt in einer Garnisonsstadt, Soiree bei Mme. de Villeparisis, Diner bei der Herzogin von Guermantes, Soiree bei der Fürstin von Guermantes. Später wird dieser Stoff zwar durch weitere Episoden ergänzt und auf verschiedene Bände der Recherche aufgeteilt, doch bleibt das Grundmuster von Marcels Weg durch die Welt der Guermantes bestehen. Reinschrift und Typoskript datieren von 1912 und 1913. Beim Erscheinen von Du côté de chez Swann (1913) wurde als zweiter Band der Recherche Le côté de Guermantes angekündigt, der folgende Teile umfassen sollte: »Bei Madame Swann / Namen und Orte: Orte / Erste Skizzen zum Baron von Charlus und zu Robert de Saint-Loup / Personen undNamen: die Herzogin von Guermantes / Der Salon von Mme. de Villeparisis.« In dieser Form hat Grasset den Band auch tatsächlich drucken lassen, doch als Proust Anfang Juni 1914 die ersten Druckfahnen erhielt, stand er noch völlig unter dem Eindruck des Todes von Alfred Agostinelli, der am 30. Mai tödlich verunglückt war. »Seit dem Tod meines Freundes«, schreibt er am 19. Juni an André Gide, »fand ich den Mut nicht, auch nur eines der Pakete mit den Druckfahnen zu öffnen, die Grasset mir täglich schickt. Ungeöffnet stapeln sie sich, und ich vermag nicht abzusehen, wann und ob überhaupt ich je den Mut aufbringen werde, mich wieder an die Arbeit zu machen.« Trotzdem hat Proust weitergearbeitet, allerdings nicht an den Korrekturen der Druckfahnen zum zweiten Band, sondern an einem völlig neuen, um die Figur Albertines kreisenden Teil seines Romans. Die Arbeit an den Druckfahnen setzt erst 1916 wieder ein, nachdem Proust von Grasset zu Gallimard gewechselt hat. In der Zwischenzeit, das heißt während der ersten Kriegsjahre, hat sich jedoch Prousts Romanprojekt auch in bezug auf den zweiten Band erheblich verändert. Dieser setzt sich nun aus den von Grasset angekündigten Kapiteln zu Mme. Swann, dem Baron von Charlus und Robert de Saint-Loup sowie aus den ursprünglich für den dritten Band vorgesehenen Szenen mit den jungen Mädchen zusammen. Er erscheint 1919 unter dem Titel À l’ombre des jeunes filles en fleurs . Damit kann der dritte Band an der schon im Projekt von 1910 vorgesehenen Stelle, nämlich mit den Phantastereien Marcels über den Namen Guermantes, beginnen. Im Vergleich zu den Manuskripten von 1910 und der Ankündigung durch Grasset von 1914 besteht die wichtigste Neuerung darin, daß die Episode »Krankheit und Tod der Großmutter«, die 1914 für den letzten Band vorgesehen war, nun ins Zentrum von Guermantes rückt. Bei genauem Hinsehen hat Proust aber praktisch alles verändert, und Gallimard hat sich auch darüber beklagt, daß die von ihm korrigierten Druckfahnen eigentliche Neufassungen waren. Proust antwortet in einem Brief vom 22. Mai 1919: »[…] Lieber Freund und Verleger, Sie scheinen mir mein Überarbeitungssystem vorzuwerfen. Ich gebe zu, daß es alles kompliziert macht […]. Als Sie mich jedoch baten, Grasset zu verlassen und zu Ihnen zu kommen, kanntenSie es, denn Sie kamen einmal mit Copeau, dem es angesichts der korrigierten Grassetfahnen entfuhr: ›Das ist ja ein neues Buch!‹ Ich entschuldige mich bei Ihnen auf zwei Arten; erstens ist, so meine ich, jede geistige Eigenschaft mit einer materiellen Differenz verbunden. Da Sie die Güte hatten, in meinen Büchern einen gewissen Reichtum zu finden, der Ihnen gefällt, können Sie sich nun sagen, das komme eben gerade von jener Zusatznahrung, die ich ihnen ständig einflöße, solange ich noch am Leben bin, und die sich materiell in diesen Zusätzen äußert.«
Beim Erscheinen von Guermantes (1920 und 1921) war Proust ein berühmter Mann. Nachdem er 1919 für À l’ombre des jeunes filles en fleurs den Prix Goncourt erhalten hatte, bemühten sich zahlreiche Zeitschriften um unveröffentlichte Auszüge aus der Fortsetzung der Recherche , und es gehörte zum guten Ton, bei Umfragen unter wichtigen Persönlichkeiten auch Marcel Proust um seine Meinung zu bitten. Trotzdem war das Echo auf die beiden Guermantes-Bände nicht ungeteilt. Paul Souday, der einflußreiche
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