Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit
neuem Licht. Schon dort sagt es Proust »durch die Blume«, nicht eine Orchidee, sondern einen Fingerhut. Während Jean Santeuil die in einem entlegenen Talgrund gewachsene, von gewöhnlichen Löwenmäulern umgebene und, wie er meint, äußerst seltene Blume bedauert, klärt ihn sein Freund Henri darüber auf, es handle sich um eine »überall, in Frankreich, in Europa, in Amerika« verbreitete Spezies. In unverblümter Form tritt das Thema erst in dem Kapitel »Das Geständnis« zutage, in dem Jean Françoise zwingt (wie später Swann Odette), lesbische Beziehungen zuzugeben.
Wenn sich Proust schließlich im Februar 1907 so schnell bereit fand, über jenen Henri van Blarenberghe, der im Wahnsinn seine Mutter erschossen hatte, einen Artikel zu verfassen, »Sentiments filiaux d’un parricide« (Sohnesgefühle eines Muttermörders), so doch wohl deshalb, weil er sich durch die Tat persönlich betroffen fühlte.
Im Licht der Vorstufen ist es nicht erstaunlich, daß manche Themen und Szenen von Sodom und Gomorrha bereits in den ersten Notizen und Entwürfen zur Recherche erkennbar sind. So überschneiden sich schon auf den ersten Seiten von Prousts Agenda, dem Carnet de 1908 , Bemerkungen zu Balzacs Vautrin mit Erinnerungen an die Mutter und Träumen im Zusammenhang mit ihrem Tod; und in den Entwurfheften des ersten Halbjahres 1909, den sogenannten Cahiers Sainte-Beuve, entstehen Szenen, die auf die Begegnungen zwischen Charlus und Jupien sowie zwischen Charlus und Morel vorausweisen. Auch das Kapitel »Die Rasse der Tunten« aus dem Gegen Sainte-Beuve stammt aus dieser Arbeitsphase. In der Folge entwirft Proust die großen Gesellschaftsszenen bei der Fürstin von Guermantes und bei Madame Verdurin; doch als er 1912 sein Manuskript verschiedenen Verlegern vorlegte und auch noch als Grasset in der Erstausgabe von Du côté de chez Swann die folgenden Bände von À la recherche du temps perdu ankündigte, war von dem heutigen Band Sodomund Gomorrha noch nichts zu erkennen. Auch als er sich in der durch den Krieg erzwungenen Publikationspause daran machte, seinen Roman zu erweitern und neu zu strukturieren, bewegten sich die einzelnen Personen und Szenen der Handlung lange Zeit gleich Sternen in einem Spiralnebel. So bilden beispielsweise lange Zeit der Augenblick, in dem Marcel den Baron von Charlus betrachtet und dabei erkennt: das ist eine Frau, sowie die Begegnung zwischen Charlus und Jupien im Hof des Hôtel de Guermantes zwei voneinander getrennte Szenen. Erst spät legt Proust sie übereinander und plaziert sie am Anfang von Sodom und Gomorrha I
. Auch bei den jungen Mädchen sind die Dinge in Bewegung. Um 1913 tritt Albertine an die Stelle Marias, und Proust legt um 1914 die zwei ersten von drei geplanten Aufenthalten in Querqueville, dem damaligen Balbec, übereinander – als einen Teil des Bandes À l’ombre des jeunes filles en fleurs . Damit verliert der ursprüngliche dritte Aufenthalt an der Küste der Normandie seinen Kapiteltitel, wird aber gleichzeitig immer mehr in Richtung Gomorrha ausgebaut. Auch die Erinnerung an die lesbische Szene in Montjouvain war ursprünglich einer anderen Szene zugeordnet, nämlich dem Augenblick, in dem Cottard Marcel im Kasino von Incarville auf die lustvoll miteinander tanzenden jungen Mädchen, Albertine und Andrée, aufmerksam macht. Im Lauf dieser intensiven Schreibarbeit nimmt der Band immer deutlichere Konturen an; immer deutlicher tritt auch ein romanhaftes Element in Erscheinung. Stärker als in anderen Bänden der Recherche läßt Proust in Sodom und Gomorrha seiner Phantasie freien Lauf. Er erzählt die unwahrscheinlichsten Abenteuer, inszeniert die kompliziertesten Handlungsräume, verwebt die verschiedensten Handlungsstränge, kurz er erweist sich – mehr noch als in »Un amour de Swann« – als ein echter Romancier balzacscher Prägung, ein Romancier der Satura, der enzyklopädischen Vielfalt, wie Italo Calvino sie liebte und in das nächste Jahrtausend hinüberretten wollte. Im Lauf des Jahres 1916 beendet Proust die Reinschrift, verändert aber seinen Text weiterhin, sei es im Manuskript, dem Typoskript oder auf den Druckfahnen. Sodom et Gomorrhe I erschien im Mai 1921 zusammen mit Le côté de Guermantes II , Sodome et Gomorrhe II ein Jahr später im April 1922.
Schon bei seinen ersten Bemühungen, einen Verleger für seinen Roman zu finden, glaubte Proust, ausdrücklich darauf hinweisen zu müssen, daß eine seiner Hauptfiguren ein Homosexueller ist.
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