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Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Titel: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Proust
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in der Recherche die Tendenz, sich zu verbergen, während die weibliche sich gern zur Schau stellt. »Und wenn man uns auch sehen würde! Dann um so besser!« meint schon die Freundin von Mademoiselle Vinteuil in Unterwegs zu Swann , und in Sodom und Gomorrha geniert sich Blochs Schwester so wenig mit einer Schauspielerin auf einem Sofa in der Hotelhalle, daß sich zwei Offiziere beim Direktor beschweren. Auch in dieser Spannung zwischen Zeigen und Verbergen darf zweifellos ein autobiographisches Element ausgemacht werden.
    Die umfassende Behandlung der Homosexualität in der Recherche beruht aber keineswegs nur auf einer individuellen Veranlagung des Autors. Wie schon mit »Eine Liebe Swanns« schreibt Proust mit Sodom und Gomorrha an einem »Romanwerk« weiter, zu dem schon Balzac unvergeßliche Figuren beigetragen hat. Der Baron von Charlus ist die Antwort Prousts auf den Balzacschen Vautrin, gleichzeitig aber auch auf eine Figur aus dem 1908 in den Cahiers de la Quinzaine erschienenen Roman Romain Rollands La foire sur la place . Bei Rolland stehen sich ein homosexueller, jüdischer Salonliterat, Lucien Lévy-Cœur, und ein kerngesunder, deutscher Komponist, Jean-Christophe, gegenüber. Proust hat in seiner Betroffenheit sogleich reagiert – mit seinem Gegen Sainte-Beuve und mit seinem Baron von Charlus, den er nicht nur mit homosexueller Veranlagung, sondern auch mit blauem Blut, hohen Adelstiteln und außerdem mit viel Zartgefühl und Kunstverstand begabt. Gleichzeitig reagiert Proust auch, doch diesmal im partizipierenden Sinn, auf eine ausgedehnte psychopathologische Literatur.
    Das Interesse der Psychopathologie und der forensischen Medizin für die »conträre Sexualempfindung« (Westphal) setzte im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts ein und führte nach und nach zu einer vorurteilsloseren Beurteilung der Homosexualität – zuerst im medizinischen, dann im forensischen und schließlich, wenn auch ohne dauernden Erfolg, im moralischen Bereich. Die Studien von Karl Heinrich Ulrichs, RichardKrafft-Ebing, Magnus Hirschfeld oder Albert Molls wurden in Frankreich – u. a. von Jean-Martin Charcot – rezipiert, übersetzt und weiterentwickelt. Proust war mit den Resultaten dieser Forschung vertraut, und er hat auch die öffentlichen Auseinandersetzungen zum Thema Homosexualität aufmerksam verfolgt, beispielsweise den Prozeß gegen Oscar Wilde im Jahre 1895, in dem der Dichter wegen Homosexualität zu zwei Jahren Zuchthaus verurteilt wurde, oder die Eulenburg-Affäre (1906-1908), auf die er auch in seinem Briefwechsel, der Agenda von 1908, dem Michelet-Pastiche und in Guermantes anspielt. Es ging bei dieser Affäre um die Attacken des Journalisten Maximilian Harden, der dem Fürsten zu Eulenburg, einem engen Mitarbeiter des Kaisers, neben seiner frankreichfreundlichen, pazifistischen Haltung auch Homosexualität vorwarf. Die Affäre, in deren Verlauf Eulenburg zurücktreten mußte, fand in Frankreich großes Echo.

    Marcel Prousts literarische Beschäftigung mit dem Thema Homosexualität beginnt mit seinen literarischen Anfängen. So findet sich in seinen Jugendschriften neben den Liebeserklärungen an die Schulkameraden ein an Daniel Halévy gerichtetes Sonett, das sich zwar als Parodie ausgibt, jedoch den vielsagenden Titel »Pédérastie« trägt.
    In Prousts publizierten Texten taucht das Thema erstmals in »Avant la nuit« auf, einem jener vier Prosastücke, die in der Dezembernummer 1893 der Revue blanche erschienen sind und die moderne, psychologische Themen behandeln, wie sie bei dieser fortschrittlichen Zeitschrift willkommen waren. In der Folge aber verbirgt sich bei Proust das Thema hinter allen möglichen Transpositionen. In »La confession d’une jeune fille«, einer Umarbeitung von »Avant la nuit«, nimmt sich die Protagonistin nicht wegen lesbischer Veranlagung das Leben, sondern wegen ihrer unwiderstehlichen Neigung, sich dem Verführer hinzugeben und damit die reine Liebe zu ihrer Mutter zu profanieren.
    In Jean Santeuil scheint vorerst die Homosexualität keine Rolle zu spielen; liest man aber die Kapitel über den Skandal um Charles Marie im Licht von Prousts Ausführungen über die exilierten Sodomiter in Sodom und Gomorrha I , so erblicktman in den schamhaft verborgenen Machenschaften des Politikers, die schließlich auch seine untadelige Ehefrau entehren, eine Transposition. Auch das Kapitel »Ein Ort der Einsamkeit und der Stille« erscheint im Zusammenhang mit Sodom und Gomorrha in

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