Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit
bilden. Damit nimmt er die schon im Eingangskapitel entwickelte Parallele zwischen Homosexualität und Judentum wieder auf. Gleichzeitig aber verbirgt (und zeigt) Proust in den Bezügen auf Racine seine Beziehung zu Reynaldo Hahn, dem jüdischen Musiker, dem er seine erste erfüllte Liebesbeziehung verdankt – und der die Chöre von Racines Esther in Musik gesetzt hat.
Hauptperson und Mittelpunkt dieser gleichzeitig als psychopathologische Studie und als Gesellschaftssatire konzipierten Romanszene bildet aber der Baron von Charlus. Er verkörpert gleichzeitig die Welt der Guermantes und jene Sodoms. Bald mustert er mit Kennerblick die Truppe der ausländischen Botschaftssekretäre, bald läßt er sein Auge selbstvergessen auf den Söhnen Madame de Surgis’, der Geliebten des Herzogs von Guermantes, ruhen, um sich alsdann, wiederum kennerhaft, an die beiden schönen Jünglinge heranzumachen. Und wenn seine Falsettstimme ertönt, wenn er herumstolziert wie ein Geck oder wenn er seine bravouröse Haßtirade auf die Marquise von Saint-Euverte von Stapel läßt, so treten die Bezüge auf den (zu seinem Glück kurz vor dem Erscheinen von Sodom und Gomorrha II verstorbenen) Grafen Robert de Montesquiou derart deutlich zu Tage, daß Proust seine liebe Mühe hatte, sich Glauben zu verschaffen, wenn er versicherte, jede Ähnlichkeit zwischen seinen Romanfiguren und realen Personen beruhe auf Zufall.
Die in der Ouvertüre expositorisch skizzierte Parallele zwischen Homosexuellen (Sodomiten) und Juden – zwei exilierte »Rassen«, wie Proust sagt, die bald ihre Wesensart zu verbergen suchen, sie bald aber auch ostentativ zur Schau stellen – findet in der Soiree bei der Fürstin von Guermantes eine erzählerische Umsetzung. Eng verwoben mit dem Agieren und Parlieren der Sodomiten (Charlus, Châtellerault, Vaugoubert und Konsorten) inszeniert Proust nämlich inmitten des gesellschaftlichen Gewoges Begegnungen zwischen Anhängern sowie Konfrontationen zwischen Anhängern und Gegnern von Dreyfus. Während an anderen Stellen der Recherche auch die politischenAspekte der Affäre ins Blickfeld rücken, geht es hier in erster Linie um eine Psychologie und Soziologie der Dreyfusards. Swann als zwar erklärter, aber doch reservierter, Robert de Saint-Loup als abtrünniger sowie der Fürst und die Fürstin von Guermantes als verstohlene Anhänger des verurteilten jüdischen Offiziers sind die Protagonisten dieser Szenenfolge.
Im thematisch-szenischen Gefüge des Romans bildet Marcels Verlangen nach neuen Liebesabenteuern die Triebfeder, die die Handlung (oder was von einer Handlung bei Proust noch übrigbleibt) weiterführt. In der Hoffnung, dort der Kammerfrau der Baronin von Putbus zu begegnen, von der Robert de Saint-Loup ihm vorgeschwärmt hat, bricht Marcel nach Balbec auf. Der zweite Aufenthalt in Balbec, der erst am Schluß des Bandes zu Ende geht, bildet eine äußerst komplexe Handlungssequenz. Diese wird eingerahmt von zwei Episoden, die Proust mit einem der Medizin entlehnten Ausdruck bezeichnet: »Les intermittences du cœur« (Arrhythmien des Herzens). Damit war ursprünglich, als diese medizinische Metapher noch als Gesamttitel von Prousts Roman figurierte, ganz allgemein der unregelmäßige Verlauf des Gefühlslebens, das unvermittelte Ein- und Aussetzen der Gefühle, im besonderen der Erinnerung, gemeint; in der Recherche aber bleibt der Ausdruck den beiden dysphorischen Erfahrungen von »mémoire involontaire« in Sodom und Gomorrha – am Abend des ersten und am Vorabend des letzten Tages in Balbec – vorbehalten: die plötzliche Erinnerung an die tote Großmutter und jene an die lesbische Liebesszene in Montjouvain.
Wie die Krankheit und der Tod der Großmutter in Guermantes bildet in Sodom und Gomorrha die Erinnerung an die tote Großmutter und die damit verbundene Gewißheit, sie verloren zu haben, einen nicht nur narrativen, sondern auch autobiographischen Brennpunkt von Prousts Roman. Auch ohne die »Beweise« aus dem Briefwechsel oder der Taschenagenda wird dem Leser deutlich, daß Marcels Gefühle, Gedanken und Träume dem Autor nahestehen.
Dasselbe möchte man vielleicht von der Schlußszene des Romans vermuten. Wenn aber Albertine ihrem Freund nichtsahnend erzählt, sie sei seit ihrer Kindheit mit MademoiselleVinteuil und deren Freundin eng verbunden, wenn Marcel also unvermittelt all seine düsteren Vorahnungen über Albertines lesbische Veranlagungen bestätigt findet und sich entschließt,
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