Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit
Albertine nach Paris zu sich nach Hause zu bringen, um sie dort besser überwachen zu können, dann spürt man neben der eventuellen persönlichen Betroffenheit des Autors in erster Linie seinen gestalterischen Willen, eine Handlung durchzuformen, Sodom und Gomorrha abzuschließen und Die Gefangene vorzubereiten.
Im einzelnen jedoch kann in Sodom und Gomorrha – wie in der Recherche überhaupt – von einer durchgeformten Handlung kaum gesprochen werden. Beim zweiten Aufenthalt in Balbec beispielsweise begnügt sich Proust oft mit einer lockeren Aneinanderreihung von Szenen, Tableaus, Portraits und Betrachtungen, die, wie schon in den Jeunes filles , durch Spaziergänge auf der Strandpromenade oder Spazierfahrten in der Gegend von Balbec miteinander verbunden sind. Das wichtigste erzählerische Vehikel ist in Sodom und Gomorrha aber die Lokalbahn, deren Stationen die einzelnen Episoden herbeiführen: Incarville, wo bei einem Zwischenhalt Marcel beobachtet, wie Albertine im Kasino mit Andrée tanzt, und wo er von Cottard auf die zweideutige Haltung der jungen Mädchen aufmerksam gemacht wird; Parville, wo Albertine Marcel erzählt, sie kenne die Freundin von Mademoiselle Vinteuil; Doncières, wo auf dem Bahnsteig die erste Begegnung von Charlus mit Morel stattfindet; Maineville mit seinem Palace, das kein Hotel, sondern ein Bordell ist; Douville-Féterne, von wo aus man mit dem Wagen zu dem von Madame Verdurin gemieteten Landhaus La Raspelière gelangt. Über diese Nebenschauplätze verbindet die Lokalbahn die beiden Hauptschauplätze der Handlung: das Hotel in Balbec und La Raspelière.
In Marcels Hotelzimmer spielen die intimen Szenen zwischen Marcel und der in der Erinnerung anwesenden Großmutter, zwischen Marcel und Albertine sowie zwischen Marcel und seiner Mutter; in der Hotelhalle die grotesk satirischen Szenen mit dem »logosthenischen« Direktor; im Speisesaal agieren die Kellner unter den wohlgefälligen Blicken eines jüdischen Bankiers gleich dem Trupp junger Israeliten in Racines Tragödie Athalie ; und in den labyrinthischen Souterrains lauert derselbe einem jungen Hotelbedienten auf. Auf La Raspelière dagegen spielen die nächsten großen Gesellschaftsszenen der Recherche . Sie zeigen eine weitere Ausformung des Salons von Madame Verdurin. Neben den von »Un amour de Swann« her bekannten »Getreuen« (die Cottards, Brichot, Saniette) treten auch neue Personen auf: der Bildhauer Ski (anstelle des Malers), der Geiger Morel (anstelle des Pianisten), dann aber auch die Fürstin Scherbatow, eine sonst in der Gesellschaft kaum zugelassene, den Verdurins aber treu ergebene russische Adlige, der Marquis und die Marquise von Cambremer, denen La Raspelière gehört und die sich mit der bürgerlichen Mieterin gehörig schwertun, schließlich auch – eingeführt als Freund des Geigers – der Baron von Charlus, über dessen gesellschaftliche Stellung die Verdurins offensichtlich weniger gut unterrichtet sind als über dessen Veranlagung. Jeder hat seine Nummer in dieser von Cocteau als »Wust von schlecht geschriebenen Sätzen« qualifizierten Szenenfolge: Brichot doziert endlos über die Etymologie der Ortsnamen; Cottard gibt seine Sprüche zum besten; Charlus läßt sich aus über die Feinheiten des Protokolls und der Etikette in der adligen Welt; die Marquise von Cambremer schwärmt für Debussy; und Morel erweist sich wiederholtermaßen als ein Wesen ohne jegliche Moral.
Morel wird in diesem Romanteil zu einer eigentlichen Hauptfigur der Recherche . Die Faszination, die von ihm ausgeht, ist nicht nur bei Monsieur de Charlus, sondern auch bei dem Autor zu spüren, der seine Figur einerseits zu einer Art Pendant Albertines entwickelt, andererseits aber auch eng mit seinem Protagonisten und seiner eigenen Person verknüpft. Die onomastischen Spiele um den Namen Morel sprechen eine deutliche Sprache. Wie dem auch sei, tatsächlich kreist die Handlung in Sodom und Gomorrha (und auch im folgenden Band der Recherche , dem Proust am liebsten den Titel Sodom und Gomorrha III gegeben hätte) ebenso sehr um das Paar Charlus/ Morel wie um das Paar Marcel/Albertine.
Entgegen der einfachen Parallelsetzung im Titel werden die Welt von Sodom und jene von Gomorrha auf völligverschiedene Art und Weise dargestellt. Sodom ist meist Gegenstand von Prousts Gesellschaftssatire, während Gomorrha meist in die Analyse der Gefühle Marcels gegenüber Albertine eingebunden bleibt. Außerdem hat die männliche Homosexualität
Weitere Kostenlose Bücher