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Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Titel: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Proust
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sonnendurchfluteten Fenstern, Albertines Zimmer, Treppe und Hof, die Wohnung der Guermantes, den Salon der Verdurins, den Bois de Boulogne oder die sonntäglichen Dörfer zwischen Paris und Versailles, doch die eigentliche Handlung, das Drama um Marcel und Albertine, spielt in Marcels Zimmer. Wie im Vorraum vor den Gemächern des Kaisers und der Königin in Racines Bérénice treffen hier die Protagonisten des Dramas aufeinander, ohne sich je wirklich zu treffen und um schließlich für immer auseinanderzugehen. Wie bei Racine auch steht der Ort der Handlung in einem dramatischen Spannungsverhältnis zum Außenraum. Während sich Bérénice und Titus an eine glückliche Vergangenheit in Palästina erinnern und sich mit Grauen eine Zukunft vor Augen führen, in der sie voneinander getrennt leben werden, kreisen Marcels Gedanken – seit er von der Bekanntschaft Albertines mit Vinteuils Tochter und deren Freundin weiß – um Montjouvain, um alles, was Albertine möglicherweise früher dort getrieben hat, um alles, was sie später dort oder an anderen Orten treiben könnte. Er bleibt zwar tagelang in seinem Zimmer, doch anstatt sich endlich an die Arbeit zu machen und zu schreiben, wie früher der Großmutter und jetzt Albertine von einem Tag zum anderen versprochen, verwendet er seine ganze Phantasie und Energie darauf, Albertines Spazierfahrten zu planen sowie in Erfahrung zu bringen, wie und wo genau Albertine ihre Zeit verbracht hat. Gomorrha wird dabei zur Chiffre für das Unbekannte, ja für das Unkennbare überhaupt. Parallel dazu ist Marcels inquisitorische Eifersucht, die auf der Ebene der Handlung nur »verlorene Zeit« bedeutet, ein Bild nicht nur für die dichterische Einbildungskraft, sondern auch für die endlose Suche nach dem Sinn. Auch Albertines Neigung zur Lüge kann in diesenBedeutungszusammenhang eingeschrieben werden. Wie Marcels Eifersucht, die ständig neue Realitäten erfindet, zeigen die Lügen Albertines, die der Realität ständig neue Formen verleihen, die Triebkräfte, die der Dichtkunst zugrunde liegen. Bevor jedoch der Interpret in der Eifersuchts- und Lügenthematik eine metapoetische Bedeutung zu erkennen imstande ist, muß er sich mit dem Romanhelden durch mehrere Eifersuchtsszenen und mit dem Erzähler (um die Sache nicht dem Autor selbst anzulasten) durch endlose Betrachtungen und Theorien über Liebe und Eifersucht hindurchquälen. Während Proust im ersten Band der Recherche Swanns Liebe und Eifersucht gegenüber Odette in der Art eines Berichts als eine mehr oder weniger lineare Folge von Szenen und Ereignissen erzählt, wird in der Gefangenen die Entwicklung von Marcels Liebe und Eifersucht gegenüber Albertine romanhaft ausgebaut und lehrhaft kommentiert. Die Erzählung wird zum Abbild einer Obsession, von der sie sich nur an jenen Stellen lösen kann, an denen Marcel die schlafende Albertine betrachtet und seine Gedanken eine andere Richtung nehmen. Dann wird in der Überlagerung verschiedener Erinnerungsbilder Albertine zum Symbol, ja zur Göttin der Zeit und damit auch zur zentralen Figur von und für Prousts Roman. Paradoxerweise kommt die zentrale Bedeutung Albertines in einem unleserlichen Wort des Manuskripts am schönsten zum Ausdruck. Am Abend des dritten Tages betrachtet Marcel die schlafende Albertine und sieht in ihr eine allegorische Figur. Doch wovon? Vielleicht seines Todes? Vielleicht …, und hier folgt das unleserliche Wort: Heißt es »de mon amour« oder »de mon œuvre«, »meiner Liebe« oder »meines Werks«?
    Dank der ästhetischen Dimension des Dramas zwischen Marcel und Albertine wird auch der Schauplatz der Handlung zu einem ästhetischen Ort. In einem gewissen Sinn ist er es allerdings schon zuvor. Wenn nämlich die Geräusche einer Straßenbahn, der Benzinduft eines Automobils, die Signale eines Frühlingsmorgens oder die Rufe der Straßenverkäufer in Marcels Zimmer dringen, wird dieses zum Schauplatz der Sinneswahrnehmung, jener Aisthesis, die der Ästhetik nicht nur etymologisch zugrunde liegt. Es wird auch zum Ort – zu einem Topos – der ästhetischen Reflexion jener Jahre des Aufbruchs, in denendie Recherche entstanden ist. So trägt ein Bild Umberto Boccionis, das 1912 in der Futuristen-Ausstellung bei Bernheim-Jeune gezeigt wurde, den Titel: »La Rue entre dans la maison«. Daß Proust dieses Bild gesehen hat, ist nicht erwiesen; sicher aber war ihm das am 20. Februar 1909 in Le Figaro erschienene futuristische Manifest bekannt, in dem

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