Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit
Typoskript mit dem Titel La Prisonnière (1 re partie de Sodome et Gomorrhe III) zukommen lassen und in einem Begleitbrief erklärt, wegen seines Gesundheitszustandes sei es ihm unmöglich weiterzuarbeiten; er könne deshalb den Band erst bei der Korrektur der Druckfahnen fertigstellen. Dazu ist es nicht mehr gekommen, und die 1923 erschienene Erstausgabe, La Prisonnière (Sodome et Gomorrhe III) , vermerkt denn auch, das Manuskript sei von Dr. Robert Proust und Jacques Rivière sehr sorgfältig überarbeitet und für den Druck vorbereitet worden. Gemäß ihrer These, es bestehe eine autorisierte und abgeschlossene Version von À la recherche du temps perdu , haben Prousts Bruder und sein Verlegerfreund die zahlreichen Unstimmigkeiten im Typoskript konsequent ausgemerzt. Seitdem die Herausgabe von Prousts Werken keinen gesetzlichen Einschränkungen mehr unterliegt und außerdem das Unvollendete keine negative Kategorie mehr darstellt, wurden Versuche unternommen, die nachgelassenen Teile der Recherche so zu veröffentlichen, wie Proust sie eben nachgelassen hat, das heißt unvollendet.
Während Sodom und Gomorrha I und II um Sodom (die männliche Homosexualität) kreisen, wendet sich Proust in den folgenden Teilen der Recherche Gomorrha (der weiblichen Homosexualität) zu. Nach dem Baron von Charlus rückt nun Albertine ins Zentrum des Geschehens. Mit der Gefangenen beginnt jener Teil der Recherche , den man als Albertine-Zyklus, Albertine-Episode oder Albertine-Roman bezeichnet hat und den Proust am liebsten in einem einzigen Band, als Sodome et Gomorrhe III veröffentlicht hätte. Zeitweise zog er auch eine Veröffentlichung in zwei Bänden in Betracht: Sodome et Gomorrhe III und IV mit den Untertiteln La Prisonnière und La Fugitive oder später Albertinedisparue. Die Frankfurter Ausgabe hält sich an die kanonische Gliederung in zwei Bände, die sie mit Die Gefangene und Die Flüchtige betitelt.
Die Gefangene gliedert sich in eine Folge von Tagen beziehungsweise von Tagesabläufen. Die Handlung folgt dem Rhythmus von Tag und Nacht sowie demjenigen der Jahreszeiten. Daraus ergibt sich gleichzeitig eine thematische Reduktion und eine mehrfache Variation des Themenmaterials. Die Gefangenschaft Albertines, die auch eine Gefangenschaft Marcels ist – eine Art Sartresches Huis-clos –, wird meist im Modus der Wiederholung, dem Iterativ Gérard Genettes, erzählt. Die Ereignisse des dritten Tages mit dem Konzert bei den Verdurins, das Gespräch mit Albertine über den Roman am vierten Tag sowie einige weitere Episoden stehen jedoch im Singulativ und heben sich von dem eintönigen Hintergrund ab.
Der Band beginnt in demselben Zimmer, in dem auch die Ouvertüre der Recherche spielt. Während jedoch der schlaflose Protagonist der Ouvertüre den Bildern aus seiner Vergangenheit nachsinnt, lauscht Marcel am ersten Morgen der Gefangenen auf die Geräusche und nimmt die Gerüche wahr, die von der Straße in sein Zimmer dringen. Wie das Barometermännchen des Optikers in Combray zeigt seine innere Meßuhr das Wetter an. Was in den Entwürfen zum Contre Sainte-Beuve aus den Jahren 1908-1909 eine Einheit bildet, wird in der Recherche auseinandergenommen: Die Erinnerungen an frühere Zimmer und frühere Zeiten stehen am Anfang von Swann als Ouvertüre des ganzen Romanzyklus, die Wahrnehmungen der Straßengeräusche am Anfang der Gefangenen sowie – nun als Leitmotiv – an weiteren Tagesanfängen in diesem Band.
Das Zimmer als Keimzelle von Handlung bildet ein wesentliches Element und Instrument von Prousts Erzählkunst. Die in der Ouvertüre der Recherche erinnerten Zimmer bezeichnen die Räume, in denen die Romanhandlung spielen wird: Combray, Balbec, Paris, Doncières, Venedig. Das Zimmer der Laterna magica zu Beginn der ersten um Combray kreisenden Erzählsequenz zeigt den Raum, in dem das Drama des Zubettgehens spielt; in den Zimmern von Tante Léonie zu Beginn des zweiten Kapitels von »Combray« wird der Raum, der in derFolge auskundschaftet wird, vorweggenommen; und die Spazierfahrten mit Madame de Villeparisis in der Gegend von Balbec nehmen ihren Ausgangspunkt in Marcels Hotelzimmer. In der Gefangenen jedoch ist Marcels Zimmer nicht nur Ausgangspunkt, sondern auch – wie schon im Drama des Zubettgehens, auf das mehrmals ausdrücklich Bezug genommen wird – Hauptschauplatz der Handlung. Wohl gibt es auch einige Nebenschauplätze: die beiden Badezimmer mit der schalldurchlässigen Trennwand und den
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