Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit
Oder ruht sie in einem anderen Grund und kennt sie eine andere Ordnung? Diesmal dominiert die positive These, jene nämlich, die Kunst sei etwas anderes als das Leben. Am Beispiel der musikalischen Phrasen Vinteuils zeigt Proust, wie der wahre Künstler in jedem seiner Werke sich auf seinen tiefsten Grund besinnt und deshalb seine authentische, unverkennbare Stimme erklingen läßt. Proust nennt diesen Grund die innere, »verlorene Heimat« des Künstlers.
Die dritte Szene spielt am vierten Tag. Albertine sitzt am Pianola und spielt Werke von Vinteuil. Die Schöpferfreude, die aus diesen Werken spricht, überträgt sich auf den zuhörenden Marcel, der darauf jenes gleiche Glücksgefühl empfindet, das ihn früher auch beim Anblick der Kirchtürme von Martinville oder der Bäume von Hudimesnil erfaßt hat. Ausgehend von den musikalischen Phrasen Vinteuils, von der authentischen Stimme des Komponisten, legt Proust in dieser Szene seine Theorie vom künstlerischen Stil dar, die er schon im Vorwort zur Bibel von Amiens entwickelt hat und nun im Rahmen eines Gesprächs zwischen Marcel und Albertine am Beispiel der typischen Themen und Stilmerkmale von Barbey d’Aurevilly, Thomas Hardy, Stendhal, Tolstoj und Dostojewski ausführt.
Offensichtlich ist das Gespräch mit Albertine über die großen Romanautoren des 19. Jahrhunderts nur sehr flüchtig in den Text der Gefangenen eingebaut. Es ergänzt zwar in idealer Weise die Betrachtungen über Vinteuil und Wagner, indem die Frage des persönlichen Stils eines Künstlers nun im Kontext der Literatur gestellt wird, doch hat Proust keine Zeit mehr gefunden, dem Gespräch über Literatur dieselbe kompositorische Perfektion zu verleihen, die das Konzert bei den Verdurins zu einem Höhepunkt seines Werks werden läßt. Dennoch erfüllt das Gespräch auch auf der Ebene der Handlung eine bedeutende Aufgabe. In dem bedrückenden Drama um Liebe und Eifersucht, um Verdächtigung, Verstellung und Lüge, das sich zwischen Marcel und Albertine abspielt, vermittelt es (dem Leser sowieden Protagonisten) eine Pause. Eine ähnliche, letzte Pause vor der Katastrophe wird durch ein weiteres literarisches Gespräch herbeigeführt, in dem Marcel auf der Heimfahrt von einem Ausflug mit Albertine nach Versailles Stellen über den Mondschein bei Chateaubriand, Hugo, Baudelaire und Leconte de Lisle zitiert. Doch schon vor den beiden literarischen Gesprächen hat Proust in Form von Leitmotiven gewisse Ruhepunkte in den Text der Gefangenen eingelassen: die Szenen mit Albertine am Pianola, jene mit der schlafenden Albertine, die »cris de Paris« oder die Passagen über den venezianischen Modeschöpfer Fortuny. Wirkliche Ruhepausen sind diese Pausen allerdings nur selten. Die Rufe der Straßenhändler beispielsweise sind in ihrer Zweideutigkeit alle dazu angetan, Marcels eifersüchtiger Phantasie Nahrung zu geben, und die Fortuny-Kleider, die Marcel für Albertine besorgt, erregen seinen Wunsch, endlich nach Venedig zu fahren – ohne Albertine.
Über diesen Wunsch führt Proust die Lösung des Knotens herbei. Marcel ist entschlossen, Albertine zu verlassen und nach Venedig zu fahren; er schellt nach Françoise, um sie zu bitten, einen Reiseführer und ein Kursbuch zu kaufen. Françoise kommt und meldet, Albertine habe nach ihren Koffern verlangt und um neun sei sie fort. »Mademoiselle Albertine ist fort« – mit diesem Satz beginnt der nächste Band der Recherche , Die Flüchtige .
Die in der Gefangenen erzählten Ereignisse dauern ungefähr sechs Monate. Auf die innere Chronologie der Recherche bezogen, umfaßt die Handlung eine Zeitspanne vom Herbst 1899 bis zum Frühjahr 1900. Die Bezüge auf die Zeitgeschichte erschließen jedoch einen wesentlich größeren Zeitraum; sie reichen von 1900 bis 1922.
Wie für die vorangehenden Bände der Recherche finden sich Vorstufen zu der Gefangenen schon in Prousts Frühwerk. Ein Drama der Eifersucht wird schon in »Das Ende der Eifersucht« erzählt; inquisitorische Verhöre durch einen eifersüchtigen Liebhaber finden schon in Jean Santeuil statt; von lesbischer Liebe handelt schon das frühe Prosastück »Vor der Nacht«; um Sterben und Tod geht es in mehreren Novellen von Freuden und Tage , um Musik, musikalische Phrasen und Leitmotive in »Melancholische Sommertage in Trouville«.
Die eigentlichen Vorarbeiten zur Recherche beginnen jedoch erst 1908. Von den zahlreichen Projekten, die Proust in einem Brief vom 5. oder 6. Mai 1908 an Louis d’Albufera
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