Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit
aufzählt, stehen zwei in sehr deutlicher Verbindung mit der Gefangenen . Er schreibt seinem Freund: »Ich habe Folgendes in Arbeit: eine Studie über den Adel / einen Pariser Roman / eine Studie über Sainte-Beuve / eine Studie über die Frauen / eine Studie über die Päderastie (nicht leicht zu publizieren) / eine Studie über die Kirchenfenster / eine Studie über die Grabplatten / eine Studie über den Roman.« Nähere Aufschlüsse über die weitere Arbeit an diesen Projekten gibt ein Notizbuch, das Proust zwischen 1908 und 1910 verwendete, das sogenannte Carnet de 1908 . Dort finden sich die ersten genaueren Hinweise auf Themen, die Proust teils im Sainte-Beuve-Projekt, teils in der Recherche aufgenommen und ausgebaut hat: Notizen zu Hardy, zu Barbey d’Aurevilly oder auch Skizzen zum Handlungsverlauf des Romans wie beispielsweise die folgende: »Im zweiten Teil des Romans wird das junge Mädchen ruiniert sein; ich werde sie aushalten, ohne zu versuchen, sie zu besitzen – aus Unvermögen, geliebt zu werden.« Während die Kapitel über die Liebe in Jean Santeuil und die Liebes- und Eifersuchtsszenen in »Eine Liebe Swanns« mit Prousts Beziehung zu Reynaldo Hahn in Verbindung gebracht werden können, scheint für die unglückliche Liebe des Protagonisten im zweiten Teil von Prousts Roman auch die Freundschaft mit Bertrand de Fénelon eine Rolle zu spielen. Das fragliche junge Mädchen heißt lange Zeit Maria und stammt aus jenem Holland, wohin Proust im Oktober 1902 zusammen mit Fénelon eine im Bereich der Gefühle katastrophale Reise unternommen hat. Mehrere Anspielungen auf Holland sind im Text der Gefangenen stehengeblieben, doch hat sich Proust im Lauf der Arbeit an seinem Roman darum bemüht, biographische Spuren auszumerzen oder zumindest zu verwischen. So ersetzt er – wahrscheinlich im Frühjahr 1914 – »Maria« durch »Albertine«. Die biographischen Bezüge auf Holland verschwinden, dafür entstehen onomastische Verbindungen zu Namen wie Robert, Gilbert oder Gilberte.
Sozusagen im Gegenzug drängt aber das Leben auch wieder in den Roman hinein. Nach der Wiederbegegnung mit AlfredAgostinelli im Januar 1913 beschäftigt Proust seinen früheren Chauffeur aus der Zeit in Cabourg als Sekretär. Zusammen mit seiner Frau beziehungsweise seiner Freundin wohnt Agostinelli bei Proust, der es ihm ermöglicht, die Fliegerei zu erlernen. Im Sommer: Reise nach Cabourg und überstürzte Rückkehr Prousts mit Agostinelli nach Paris. Im Dezember verläßt Agostinelli Prousts Wohnung. Proust unternimmt alles, um ihn zur Rückkehr zu bewegen. Am 30. Mai 1914 stürzt Agostinelli vor Antibes mit seinem Flugzeug ins Meer und findet den Tod.
Die Ereignisse um Agostinelli haben die vorgesehene Architektur der Recherche verändert. Anstatt die Druckfahnen von Le Côté de Guermantes zu korrigieren, die Grasset im Frühjahr 1914 hergestellt hat, entwirft Proust einen völlig neuen, Albertines Gefangenschaft, Flucht und Tod erzählenden Romanteil. Während in der Flüchtigen die Nähe Agostinellis besonders deutlich wahrzunehmen ist, werden in der Gefangenen , wie Jean-Yves Tadié in seiner Proust-Biographie gezeigt hat, die Erinnerungen an Agostinellis Aufenthalt bei Proust durch die als Last empfundene Gegenwart von Henri Rochat (1918 bis 1921) überlagert.
Zwischen 1916 und 1922 schreibt Proust eine zusammenhängende Reinschrift aller noch fehlenden Teile seines Romans. Sie reicht von Sodom und Gomorrha bis zur Wiedergefundenen Zeit und umfaßt zwanzig Hefte. Im Frühjahr 1922 schreibt er, wie Céleste Albaret berichtet, das Wort »Fin«. Auch die sogenannte Reinschrift gleicht eher einem Entwurf, denn Ränder und Rückseiten sind mit Korrekturen und Zusätzen vollgeschrieben. Längere Zusätze hat Proust in einer Reihe separater Hefte untergebracht. Was die Gefangene betrifft, stammt etwa die Hälfte des Textvolumens aus den »cahiers d’ajoutages«. Der Tod Bergottes, der Tod Swanns, die endgültige Fassung des Konzerts bei den Verdurins, das Leitmotiv der Fortuny-Kleider, die »cris de Paris«, das Gespräch über die Romanautoren des 19. Jahrhunderts – all diese für die Physiognomie des Bandes entscheidenden Episoden sind späte Zusätze.
Was die Aufteilung von Prousts Roman in einzelne Bände betrifft, ist der Briefwechsel Prousts mit Rivière und mit Gallimard unsere aufschlußreichste Quelle. Bei der Vorbereitung von À l’ombre des jeunes filles en fleurs im Jahre 1918 glaubte Proust noch, seinen
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