Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit
Sodom und Gomorrha ist Robert de Saint-Loup an der Reihe. Zu seinem Erstaunen erfährt Marcel, daß auch Robert – für ihn der Inbegriff des »homme à femmes« – zu den »hommes-femmes« gehört, seine Frau vernachlässigt und eine Liebschaft mit Morel unterhält.
Während eines Aufenthalts bei Gilberte de Saint-Loup in Tansonville werden weitere feste Überzeugungen Marcels erschüttert. Entgegen dem Glauben seiner Jugend sind die Gegend von Swann oder Méséglise und die von Guermantes keineswegs zwei hermetisch voneinander getrennte Welten. Sie lassen sich auch topographisch verbinden, und man kann, wie Gilberte es vorschlägt, durchaus über Guermantes nach Méséglise gehen oder umgekehrt. Spätestens hier wird dem Leser bewußt, daß die vermeintliche Unvereinbarkeit der Gegenden von Méséglise und Guermantes auch etwas mit der vermeintlichen Unvereinbarkeit entgegengesetzter menschlicher Veranlagungen zu tun hat. Albertine, Robert de Saint-Loup und Morel sind dafür die Exempelfiguren. Auch die Bedeutung jener eigentümlichen Geste, mit der Gilberte im ersten Band der Recherche auf die Begegnung mit Marcel reagierte, klärt sich jetzt auf: Was Gilberte ausdrücken wollte, war nicht Verachtung,sondern Begehren. Wie das Venedig-Kapitel verhält sich die Episode in Tansonville, auf die schon in der Ouvertüre des Romans vorausgewiesen wird, komplementär zu »Combray«. Eine nach der anderen werden nun die Überzeugungen aus der Jugendzeit des Romanhelden korrigiert, eine Frage nach der anderen wird beantwortet, und dadurch wird spürbar, daß sich die Recherche langsam ihrem Ende nähert. Die Flüchtige aber endet einigermaßen unerwartet mitten in der Episode von Marcels Aufenthalt in Tansonville.
Während es schon in den vorangehenden Bänden der Recherche oft schwerfällt, die chronologische Verbindung zwischen den einzelnen Ereignissen festzulegen, so gerät die Zeit mit dem Tod Albertines vollends aus den Fugen. Es bleibt offen, wie lange Marcels Trauerarbeit, sein Nachdenken und Nachforschen dauern. Die Zeit wird in der Flüchtigen sozusagen nach innen und nach rückwärts gewendet. Daran ändert sich auch in dem Venedig-Kapitel und der Tansonville-Episode nur wenig. Immerhin können im Anschluß an die Gefangene Flucht und Tod Albertines auf das Frühjahr 1900 datiert werden; die Reise nach Venedig wohl auf das Frühjahr 1901; der Aufenthalt in Tansonville vielleicht auf das folgende Jahr. Gemäß einem in der ganzen Recherche befolgten Prinzip wird jedoch dieser zeitliche Rahmen durch Anspielungen auf frühere oder spätere Ereignisse immer wieder in Frage gestellt.
Thematische Vorstufen zu der Flüchtigen finden sich schon in jenen frühen Studien und Erzählungen aus Freuden und Tage , in denen Proust der Frage nachgeht, wie Gefühle – Liebe oder Eifersucht – entstehen und vergehen; die ersten eigentlichen Entwürfe aber finden sich in den sogenannten Cahiers Sainte-Beuve. Der Artikel im Figaro und Erinnerungen an Venedig bilden Teile jener autobiographischen Erzählung, die im Sainte-Beuve-Projekt aus den Jahren 1908-1909 die literaturkritischen Betrachtungen einrahmt.
Nachdem Proust den Anfang seines Romans fertiggestellt und den Schluß entworfen hat, arbeitet er zwischen 1911 und 1914 an weiteren Szenen und Episoden, die schließlich in der Flüchtigen ihren Platz gefunden haben: die plötzlich aufflammende Liebe zu einer jungen Frau, in der Marcel später Gilberte Swann wiedererkennt; Reiseträume und Reise nach Venedig und Padua (wobei es in den Entwürfen tatsächlich zu einer Begegnung mit der Kammerfrau von Madame Putbus kommt); Aufenthalt in Tansonville. Daneben schreibt Proust auch an jener Liebesgeschichte weiter, die als Pendant und Erweiterung von »Eine Liebe Swanns« geplant ist: »eine Liebe Marcels« zu einer Frau, die zunächst Maria heißt und aus Holland stammt, dann aber – im April 1914 – durch Albertine ersetzt wird.
Dafür gibt es biographische Gründe. Mit der Figur Marias hat Proust die Erinnerung an Seelenqualen verbunden, die er während einer im Bereich der Gefühle desaströsen Hollandreise mit Bertrand de Fénelon im Jahre 1902 ausgestanden hat. Unter dem unmittelbaren Eindruck einer weiteren Seelenkrise hat nun Proust nicht nur die Figur Marias zum Verschwinden gebracht, sondern auch die ganze Struktur seines Romans verändert. Nachdem er im Januar 1913 seinem früheren Chauffeur aus der Zeit in Cabourg, Alfred Agostinelli, wiederbegegnet war,
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