Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit
bemerkt. Der mit der Sondernummer der Nouvelle Revue française , »Hommage à Marcel Proust 1871-1922« (1. Januar 1923), propagierten Behauptung, Proust habe seinen Roman vollendet, vermochte La Prisonnière (November 1923) noch einigermaßen zu genügen; zwei Jahre später aber zirkulierte sogar das Gerücht, Proust habe nur skizzenhafte Entwürfe hinterlassen. So schreibt beispielsweise Edmond Jaloux in Les Nouvelles littéraires (16. Januar 1926), Proust habe keine Zeit mehr gehabt, »seinen Text immer und immer wieder zu korrigieren, ihm Volumen zu verleihen, ihm Nahrung zuzuführen, ihn auf tausend Arten zu bereichern«. Damit hat er zwar recht, übersieht jedoch, daß die Monotonie beziehungsweise das von ihm monierte Fehlen pittoresker Szenen und Episoden ein wesentliches Element dieses Romanteils bildet. Henri Bidou hat das erkannt, wenn er in La Revue de Paris (1. März 1926) bemerkt, Albertine disparue sei »das eindringlichste Werk, das Proust je geschrieben« habe, denn es sei »frei von jenen die Bewegung hemmenden Abschweifungen, die die anderen Bände überwuchern«. Oft aber treten bei den Kritikern die ästhetischen Gesichtspunkte zurück, um dem Moralismus der zwanziger Jahre Platz zu machen. Die Polemik richtet sich dabei nicht nur gegen Proust, sondern auch gegen André Gide, dessen Roman Les Faux-Monnayeurs (1926)beinahe gleichzeitig mit Albertine disparue erschienen ist. Dabei wird – etwa bei Camille Mauclair in der in Toulouse erscheinenden La Dépêche (19. Februar 1926) – die krankhafte Sucht, pathologische und psychologische Abnormitäten darzustellen, dem verderblichen Einfluß Freuds und Dostojewskis zugeschrieben. Tatsächlich standen bei den Autoren und Redakteuren der Nouvelle Revue française , besonders Gide und Rivière, Freud und Dostojewski hoch im Kurs. Schlimmer noch tönte es aus einer anderen Ecke, nämlich der in Brüssel erscheinenden L’Indépendance belge , wo Georges Rency am 4. April 1926 sich folgendermaßen über Albertine disparue äußerte: »Ich weiß nicht, ob es in irgendeiner Literatur ein Werk gibt, das ebenso demoralisierend ist, ebenso finster und bedrückend, ebenso zerstörerisch für jeden Glauben, jede Hoffnung, wie das Werk dieses Halbjuden Proust, bei dem sich das dem Juden eigene Bedürfnis nach Zerstörung mit einem tiefen Verständnis dessen paarte, was das Abendland als originellste Leistung hervorgebracht hat, nämlich des aristokratischen Geistes.« Damit sind die Muster vorgegeben, die im Deutschland der dreißiger Jahre eine Rezeption Prousts verhindern sollten. Nach der kontroversen Beurteilung durch die Tagespresse, die Jean Milly in seiner 1992 bei Honoré Champion erschienenen Ausgabe von Albertine disparue in sorgfältiger und dankenswerter Weise dokumentiert hat, beschäftigte sich die Proust-Kritik nur sporadisch mit diesem Band der Recherche als solchem. Die Diskussion setzte erst in den fünfziger Jahren wieder ein.
Die 1954 erschienene, dreibändige Ausgabe von À la recherche du temps perdu in der Bibliothèque de la Pléiade präsentiert die Flüchtige in völlig veränderter Gestalt. Die Herausgeber, Pierre Clarac und André Ferré, hatten Zugang zu dem »manuscrit au net«, nicht aber zu den Typoskripten. Deshalb ersetzten sie »Albertine disparue«, was in keinem der ihnen vorliegenden Dokumente belegt ist, durch »La Fugitive«, den Titel, den sie aus dem Briefwechsel Prousts kannten und der 1954 durch Tagore nicht mehr gesperrt war. Bis auf einige Passagen im Venedig-Kapitel, die aus der Erstausgabe übernommen wurden, hielten sich Clarac und Ferré an das Manuskript.
Zusammen mit diesem gelangte 1962 auch ein mit »Albertinedisparue« betiteltes Typoskript in den Besitz der Bibliothèque Nationale. Es handelt sich jedoch um das von Robert Proust bearbeitete Doppel, das kein neues Licht auf die editorischen Probleme der Recherche zu werfen vermag. Die eigentliche Sensation ereignete sich 1986, als Claude Mauriac im Archiv von Suzy Mante-Proust, der Tochter Robert Prousts, das vom Autor bearbeitete Typoskript von »Albertine disparue« entdeckte. Nathalie Mauriac und Étienne Wolff haben dieses Typoskript 1987 bei Grasset publiziert. In der Folge brach ein Streit unter Gelehrten aus, der auch heute noch nicht völlig abgeklungen ist. Für die einen stellt das wiederentdeckte Typoskript die Fassung »letzter Hand« dar. Folgerichtig publiziert Nathalie Mauriac Dyer in »Le livre de poche« unter dem Titel Sodome et Gomorrhe
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