Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit
Fugitive ein Werk Rabindranath Tagores erschien, wurden gleich beide Titel fallengelassen. Trotzdem betitelte Proust das Typoskript, das er zwei Wochen vor seinem Tod Gallimard zukommen ließ, La Prisonnière (1re partie de Sodome et Gomorrhe III) . In einer begleitenden Notiz, dem letzten »Brief« an Gallimard, schrieb er: »Mein lieber Gaston […]. Ich glaube, es wäre im jetzigen Augenblick das Dringendste, Ihnen alle meine Bücher zu überlassen. In dem schrecklichen Zustand, in dem ich mich dieser Tage befinde, hat jene Art von Verbissenheit, mit der ich an der Prisonnière arbeitete (sie ist bereit, aber man muß sie überarbeiten, am besten lassen Sie Druckfahnen herstellen, die ich korrigieren werde), jene Verbissenheit hat die folgenden Bände etwas in die Ferne gerückt. Doch drei Tage Ruhe können genügen. Ich breche ab, adieu, lieber Gaston. Marcel Proust. Brief folgt, sobald ich kann.« Mehrmals schon hatte Proust seinem Verleger versichert, sein Roman sei abgeschlossen und könne, falls ihm etwas zustoßen sollte, von Gallimard zusammen mit Rivière aufgrund seiner nachgelassenen Manuskripte publiziert werden. Es sollte anders kommen.
Der todkranke Autor hat seine letzten Kräfte daraufverwendet, das Typoskript der Flüchtigen radikal zu verändern. Zuvor schon hatte er darin Zusätze und Streichungen vorgenommen, doch jetzt reduziert er plötzlich das Textvolumen um mehr als die Hälfte. Er streicht Aimés Nachforschungen in Balbec, die drei Etappen des Vergessens (Begegnung mit Gilberte, die Enthüllungen Andrées, das Telegramm von »Albertine«), das Gespräch mit der Mutter auf der Rückreise von Venedig über die Mesalliancen in der Pariser Gesellschaft sowie den Aufenthalt in Tansonville. Dafür wird jetzt in Madame Bontemps’ Telegramm präzisiert, Albertine sei am Ufer der Vivonne ums Leben gekommen. Da Montjouvain – Symbol des Sapphismus – in der Nähe der Vivonne liegt, ist damit die Antwort auf die Frage nach Albertines Neigungen vorweggenommen, und die Nachforschungen Marcels erübrigen sich. Schließlich erhält der so entstandene Romanteil den Titel »Albertine disparue«. Möglicherweise hatte Proust gehofft, Gefangenschaft und Flucht Albertines doch noch in einem Band unterbringen zu können; möglicherweise auch hat er den obsessionellen und lugubren Charakter von Marcels Trauerarbeit selbst nicht mehr ertragen. In der so entstandenen Kurzfassung sind jedoch zahlreiche Widersprüche stehengeblieben. So hat Proust beispielsweise das Telegramm »Albertines« – als dritte Etappe des Vergessens – gestrichen; trotzdem wird es im Gespräch zwischen Marcel und seiner Mutter auf der Rückfahrt von Venedig erwähnt. Außerdem klafft in der Kurzfassung eine Lücke zwischen der Rückkehr von Venedig und dem Aufenthalt in Tansonville. Auf einem Umschlag hat Proust in der letzten Nacht vor seinem Tod mit zitternder Schrift stichwortartig einen Plan entworfen, wie die Lücke – unter Wiederverwendung einiger gestrichener Passagen – geschlossen werden könnte. Wie dem auch sei, die Fassung »letzter Hand« von À la recherche du temps perdu ist eine unvollendete.
Mit dem sicheren Blick des Diagnostikers gelangte auch Robert Proust zu diesem Befund, als er nach dem Tod seines Bruders dessen Nachlaß sichtete. Und er hat auch sogleich die Gefahr erkannt, die dem Ruhm Marcel Prousts drohte. In einer Zeit, in der das Unvollendete nur negativ konnotiert wurde, durfte von der amputierten Fassung niemand etwas erfahren.So machte sich denn Robert Proust daran, die Korrekturen, die ihm gut schienen, in das vom Autor nicht benützte Doppel des Typoskripts zu übertragen, weigerte sich aber trotz wiederholtem Drängen, Gallimard und Rivière das Original auszuhändigen. Schlimmer noch, er scheute nicht davor zurück, hier etwas zu streichen und dort etwas hinzuzufügen, beispielsweise die G Aufteilung des Romans in vier Kapitel und die entsprechenden Kapiteltitel: »Le Chagrin et l’oubli«, »Mademoiselle de Forcheville«, »Séjour à Venise«, »Nouvel aspect de Robert de Saint-Loup«. Seine Mitherausgeber konnten nicht einmal verifizieren, ob der Titel »Albertine disparue«, der nur auf dem (unterschlagenen) Original erscheint, wirklich von Proust stammt. In Tat und Wahrheit ist denn auch die 1925 erschienene Erstausgabe von Albertine disparue ein Artefakt Robert Prousts.
Trotz aller Bemühungen der Herausgeber haben mehrere Kritiker den unfertigen Charakter von Albertine disparue
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