Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit
überarbeitet und 1923 unter dem Titel La Prisonnière (Sodome et Gomorrhe III) veröffentlicht. 1925 folgte Albertine disparue .
»Um neun Uhr ist sie fort«, berichtet Françoise am Ende der Gefangenen – »Mademoiselle Albertine ist fort«, klingt es zu Beginn der Flüchtigen nach. Die Flucht Albertines bildet nicht nur die Zäsur, sondern auch die Klammer zwischen den beiden Bänden des Albertine-Zyklus, und gleich einem Leitmotiv wird sich ihr Fortgehen im Romantext festsetzen. Noch kurz zuvor hatten Marcel beim Erwachen Frühlingsgefühle erfüllt. Der Benzingeruch eines Automobils hatte in ihm den Wunsch nach Landpartien mit einer Unbekannten erweckt, den Wunsch auch, nach Venedig zu fahren, und zwar ohne Albertine. Er war entschlossen, sie zu verlassen und aus dem Gefängnis, das er sich selbst errichtet hatte, auszubrechen. Jetzt, nach Albertines Flucht, verstrickt er sich um so tiefer im Netz seiner eifersüchtigen Obsessionen. Ohne sich von der Stelle zu rühren, setzt er alle Mittel ein, die ihm geeignet scheinen, die Flüchtige zur Rückkehr zu bewegen. Während er Robert de Saint-Loup mit einemBestechungsauftrag zu Madame Bontemps entsendet, tauscht er mit Albertine Briefe voller Lügen und Verstellungen aus, in denen die Trennung scheinbar besiegelt wird. Als dann schließlich die wahren Gefühle der beiden »Liebenden« obsiegen und Albertine zu Marcel zurückkehren möchte, wird ihr Versöhnungsbrief von dem Telegramm überholt, in dem Madame Bontemps mitteilt, Albertine sei bei einem Reitunfall ums Leben gekommen.
Nun beginnt eine Trauerarbeit besonderer Art. Einerseits muß sich Marcel bei jedem in seiner Erinnerung aufsteigenden Ereignis seines Lebens mit Albertine von neuem bewußt werden, daß Albertine tot ist. Die in der Gefangenen geschilderte Vervielfachung ihres Bildes im Geist Marcels setzt sich in der Flüchtigen fort. Der Roman wird dabei für die Aufmerksamkeit und das Erinnerungsvermögen des Lesers zu einer wahren Herausforderung. Während nur wenig neue Ereignisse sein Interesse fesseln, wird er ständig auf früher Gelesenes verwiesen. In den vorangehenden Bänden der Recherche blieb solch konzentriertes Erinnern des Helden und des Lesers auf einzelne Szenen beschränkt; jetzt wird es zu einem Kompositionsprinzip des Romans. Andererseits kommt nach Albertines Tod Marcels inquisitorische Eifersucht keineswegs zum Erliegen. Aimé wird beauftragt, in Balbec und in der Touraine beziehungsweise in Nizza Erkundigungen einzuholen. Was Marcel dabei erfährt, ist niederschmetternd, werden doch seine schlimmsten Befürchtungen bestätigt: amouröse Begegnungen Albertines mit anderen Frauen in einem Duschen-Etablissement in Balbec, Liebesspiele mit jungen Wäscherinnen am Ufer der Loire … Allerdings bleibt jederzeit offen, ob die Berichte tatsächlich der Wahrheit entsprechen oder nicht vielleicht doch der Phantasie Aimés beziehungsweise des jeweiligen Informanten entspringen. In höherem Maße noch als in der Gefangenen werden Marcels Eifersuchtsphantasien so zum Sinnbild der Fiktion an sich, zu einer Mise en abyme des fiktionalen Schreibens. Daß die Wahnvorstellungen auch nach dem Tod Albertines nicht zur Ruhe kommen, kann als Bild dessen betrachtet werden, was Rainer Warning Prousts »Schreiben ohne Ende« genannt hat.
Trotz allem wirkt neben der Erinnerung und der Imagination auch die zunächst verborgene Kraft des Vergessens. Über dreiEtappen führt Proust seinen Romanhelden zu vollständiger Gleichgültigkeit gegenüber Albertine. Eine erste Etappe kreist um Gilberte Swann, der Marcel auf einem Spaziergang im Bois de Boulogne und auf der Straße vor seiner Wohnung begegnet, ohne sie zu erkennen. Sie wirft ihm einen Blick zu, er hört einen Namen, und schon ist seine Phantasie entflammt: Er stellt sich vor, es handle sich um die Tochter aus gutem Haus, von der Saint-Loup ihm erzählt hat, sie besuche Stundenhotels. Ein Telegramm Saint-Loups und eine weitere Begegnung mit der jungen Unbekannten bei den Guermantes klären den Irrtum auf. Dieselbe Szene gibt auch Gelegenheit, von Gilbertes sozialem Aufstieg zu berichten und zu zeigen, wie die jetzige Mademoiselle de Forcheville ihre Herkunft zu verbergen sucht. Ohne den Bezug zwischen den beiden schmählichen Verhaltensweisen ausdrücklich herzustellen, setzt Proust Gilbertes Verleugnen ihres Vaters parallel zu Marcels Vergessen von Albertine. Bei dem Besuch zeigt sich auch, welches Echo – nämlich keines – Marcels nun endlich
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