Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit
in Le Figaro erschienener Artikel bei den Guermantes gefunden hat.
Die zweite Etappe des Vergessens kreist um Andrée. Entgegen früheren Beteuerungen gibt sie nun unumwunden zu, mit Albertine lesbische Beziehungen unterhalten zu haben. Sie erzählt von Ausflügen in den Park der Buttes-Chaumont, von dem Zwischenfall mit dem Jasmin, als Marcel die beiden jungen Frauen beinahe überrascht hätte, schließlich von Morel, der Albertine kleine Mädchen beschaffte, nicht ohne sich zuvor selbst an ihnen gütlich getan zu haben. Doch auch bei diesen Erzählungen bleibt letzten Endes offen, ob die Worte Andrées Wahrheit oder Lüge sind. Der romaneske Charakter Andrées scheint auf den Roman Prousts abzufärben. Neben den Liebesabenteuern Albertines wird in diesem Teil auch die abenteuerliche Geschichte Octaves erzählt: Der unbedeutende Dandy der Jeunes filles wird zum genialen Theaterautor; er war während der ganzen Zeit, die Albertine bei Marcel verbrachte, Albertines Verlobter; schließlich wird er Andrée heiraten. Wohl lassen die Enthüllungen Andrées augenblicksweise Marcels Liebe und Eifersucht von neuem aufflammen, den Prozeß des Vergessens vermögen sie jedoch nicht aufzuhalten.
Die dritte Etappe dieses Prozesses verlegt Proust nach Venedig, wohin Marcel mit seiner Mutter gereist ist. Die Erinnerung an Albertine ruht nun in Marcel »wie in den Bleikammern eines inneren Venedigs«, und öffnet sich einmal durch einen Zufall ein Tor dieses Seelenkerkers, so begegnet Marcel der in seinem Inneren Gefangenen mit Gleichgültigkeit: einmal, als eine Wendung im Brief seines Bankiers ihm die Duschen-Etablissements in Balbec in Erinnerung ruft; dann, als er die Darstellung eines Adlers betrachtet, die ihn an zwei verdächtige Ringe Albertines erinnert; schließlich, als ein mit »Albertine« gezeichnetes Telegramm eintrifft, in dem sie versichert, durchaus am Leben zu sein, ihn zu sehen wünscht und Hochzeitspläne besprechen möchte. Daran, daß er nicht die geringste Freude empfindet, erkennt Marcel, daß nun auch seine Liebe zu Albertine tot ist.
Das Venedig-Kapitel bildet eine Art Pendant zu »Combray«, dem ersten Teil von Unterwegs zu Swann . Den bescheidenen Eindrücken von Schönheit (vor einer Dorfkirche, einem roten Ziegeldach oder drei Kirchtürmen im Abendlicht) stehen nun erhabene Eindrücke gegenüber (vor der Markuskirche, dem Engel auf dem Campanile oder den Palazzi am Canal Grande). Auch mit Giottos Allegorien der Laster und Tugenden werden die beiden Teile der Recherche zueinander in Beziehung gesetzt. In Combray betrachtet sie Marcel in Form von Reproduktionen und in der Gestalt des hochschwangeren Küchenmädchens, in der Arena-Kapelle begegnet er dem originalen Kunstwerk. Während die Pilgerfahrten zu den Sehenswürdigkeiten Venedigs und Paduas unter dem euphorisch bestimmten Zeichen von Ruskin stehen und gemeinsam mit der Mutter unternommen werden, läßt Proust seinen Romanhelden auf der dysphorisch erlebten Suche nach erotischen Abenteuern – nun unter dem Zeichen von Tausendundeiner Nacht – auch allein durch Venedig irren. Die Spannung zwischen einem euphorisch und einem dysphorisch markierten Venedigbild findet am Tag der Abreise ihren Höhepunkt, als Marcel erfährt, im Hotel werde die Baronin Putbus mit Gefolge erwartet. In der Hoffnung, endlich der Kammerfrau der Baronin, einem, wie Saint-Loup sich ausdrückte, wahrhaftigen Giorgione, zu begegnen, entschließt sich Marcel, zu bleiben und die Mutter allein abreisen zu lassen.Im letzten Augenblick erst, nachdem der Gedanke an die betrübte Mutter der Stadt jeden Reiz genommen hat, besinnt er sich eines anderen und holt die Mutter am Bahnhof ein.
Auf der Rückfahrt nach Paris erfahren Marcel und seine Mutter von zwei Heiraten aus ihrem Bekanntenkreis. Gilberte Swann, von der, wie Marcel erst jetzt begreift, das mit »Albertine« gezeichnete Telegramm stammte, heiratet Robert de Saint-Loup, womit zwei zu Beginn der Recherche scheinbar unvereinbare »Gegenden«, die Gegend von Méséglise oder von Swann und die Gegend von Guermantes, nun nebeneinanderrücken; und der junge Marquis von Cambremer heiratet die unterdessen von Monsieur de Charlus adoptierte Nichte Jupiens. Die beiden Mesalliancen sind Anlaß, über gesellschaftliche Umwälzungen zu meditieren, doch nimmt Proust bald jenes Hauptthema wieder auf, das mit der Reise nach Venedig vorübergehend in den Hintergrund getreten ist, nämlich Sodom und Gomorrha.
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