Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit
de Norpois.
»Oh, da ist Fürst B.«, sagte der Marquis.
»Ja? Ich weiß allerdings nicht genau, wen Sie meinen«, hauchte Madame de Villeparisis.
»Aber doch, natürlich! Fürst Odon, der echte Schwager Ihrer Cousine Doudeauville. Sie müssen sich doch erinnern, daß ich mit ihm in Bonnétable zur Jagd war!«
»Ach! Odon, das ist doch der, der malt?«
»Aber nicht doch, er ist der, der die Schwester des Großfürsten N. geheiratet hat.«
Monsieur de Norpois brachte das alles in dem etwas unangenehmen Ton eines mit seiner Schülerinunzufriedenen Lehrers vor und hielt den Blick seiner blauen Augen streng auf Madame de Villeparisis geheftet.
Als der Fürst seinen Kaffee getrunken hatte und den Tisch verließ, stand Monsieur de Norpois auf, ging eilig auf ihn zu, trat aber dann mit einer eindrucksvollen Geste zurück, als spiele er selbst keine Rolle, und stellte ihn Madame de Villeparisis vor. Während der paar Minuten, die der Fürst neben ihnen stehend verbrachte, ließ Monsieur de Norpois keinen Augenblick davon ab, Madame de Villeparisis mit seinem blauen Blick zu überwachen, aus dem das Wohlwollen oder die Strenge des alten Liebhabers sprach, vor allem aber die Befürchtung, sie könne sich zu jener Art von unkontrollierten Äußerungen veranlaßt sehen, die er einst goutiert hatte, jetzt aber fürchtete. Sobald sie zu dem Fürsten etwas bemerkte, das nicht ganz korrekt war, berichtigte er ihre Worte und fixierte streng die bedrückte und gefügige Marquise mit der unbeirrbaren Intensität eines Hypnotiseurs.
Ein Kellner kam und richtete mir aus, meine Mutter warte auf mich; ich eilte zu ihr und entschuldigte mich bei Madame Sazerat mit der Bemerkung, es habe mir solchen Spaß gemacht, Madame de Villeparisis zu beobachten. Bei diesem Namen erbleichte Madame Sazerat und schien einer Ohnmacht nahe.
Dann aber beherrschte sie sich:
»Madame de Villeparisis, Mademoiselle de Bouillon?« fragte sie.
»Ja.«
»Ob ich sie nicht einen Augenblick zu Gesicht bekommen könnte? Es ist der Traum meines Lebens.«
»Dann dürfen Sie aber keine Minute verlieren, Madame, sie wird gleich mit dem Essen fertig sein. Aber wie kann Sie das nur so ungemein interessieren?«
»Madame de Villeparisis war doch in erster Ehe die Herzogin von Havré, schön wie ein Engel, böse wie einTeufel, die meinen Vater um den Verstand gebracht, völlig ruiniert, bald darauf jedoch verlassen hat. Aber wenn sie auch wie das letzte Straßenmädchen an ihm gehandelt hat und die Ursache ist, daß wir, ich und die Meinen, in kleinsten Verhältnissen in Combray leben mußten, war es doch, seit mein Vater tot ist, ein Trost für mich, daß er die schönste Frau seiner Zeit geliebt hat, und da ich sie niemals gesehen habe, wäre es trotz allem etwas wie eine Befriedigung für mich …«
Ich führte die vor Aufregung zitternde Madame Sazerat in den Speisesaal und zeigte ihr Madame de Villeparisis.
Wie Blinde jedoch, die ihre Blicke nicht dorthin lenken, wohin man sie dirigieren will, heftete Madame Sazerat die ihren nicht auf den Tisch, an dem Madame de Villeparisis speiste, sondern bemerkte, während sie an einem anderen Punkt des Saales nach ihr suchte:
»Aber sie muß schon fort sein, da, wo Sie sagen, sehe ich sie nicht.«
Und wieder forschte sie nach der verhaßten, angebeteten Vision, die seit so langem schon ihre Einbildungskraft bewohnte.
»Doch. Da ist sie, an dem zweiten Tisch.«
»Dann zählen wir offenbar nicht vom gleichen Punkt aus; so wie ich zähle, sitzt am zweiten Tisch nur neben einem alten Herrn eine kleine, abscheuliche, bucklige Person mit einem ganz roten Gesicht.«
»Das ist sie!« 1
ANHANG
NACHWORT DES HERAUSGEBERS
Bei seinem Tod am 18. November 1922 hinterließ Marcel Proust eine Manuskriptfassung der noch unveröffentlichen Teile von À la recherche du temps perdu . Dieses sogenannte »manuscrit au net« beginnt mit Sodome et Gomorrhe und endet mit dem Wort »fin« am Ende von Le Temps retrouvé . Nachdem Sodome et Gomorrhe II im Frühjahr 1922 erschienen war, hatte Proust weitere Teile des Manuskripts abtippen lassen. Das damals entstandene Typoskript diente als Textvorlage für die Arbeit an den beiden folgenden Bänden der Recherche . Zwei Wochen vor seinem Tod hat Proust seinem Verleger unter dem Titel La Prisonnière (1re partie de Sodome et Gomorrhe III) einen ersten Teil dieses keineswegs druckreifen Typoskripts zukommen lassen. Prousts Bruder, Dr. Robert Proust, und Jacques Rivière haben den Text
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