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Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Titel: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Proust
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Kirche, die damals noch stand, die Theodebert – als er mit seinem Hofe den Landsitz verließ, den er hier in der Nähe bei Thiberzy ( Theodeberciacus ) besaß, um gegen die Burgunder zu Felde zu ziehen – über dem Grabe des heiligen Hilarius zu bauen gelobt hatte, wofern der Heilige ihm den Sieg verschaffte. Davon ist nur die Krypta übrig, in die Théodore Sie sicher hinuntergeführt hat, denn alles übrige hat Gilbert damals in Asche gelegt. In der Folge schlug er den unglücklichen Karl mit Hilfe Wilhelms des Eroberers (der Pfarrer sprach es »Willem« aus), weshalb viele Engländer die Stätten hier besichtigen kommen. Aber offenbar vermochte er die Sympathie der Einwohner von Combray nicht zu erringen, denn diese stürzten sich auf ihn, als er nach der Messe gerade die Kirche verließ, und schlugen ihm den Kopf ab. Théodore leiht übrigens ein kleines Buch aus, das alle notwendigen Erklärungen enthält.
    Unbestritten das Merkwürdigste aber an unserer Kirche ist die Aussicht vom Glockenturm, die großartig ist. Gewiß, bei Ihrem Kräftezustand rate ich Ihnen nicht, die siebenundneunzig Stufen hinaufzusteigen, gerade dieHälfte von denen im berühmten Mailänder Dom. Schon für jemand Gesunden ist das eine ziemliche Leistung, zumal man ganz krummgebückt gehen muß, um mit dem Kopf nicht anzustoßen, und man hat außerdem hinterher sämtliche Spinnweben aus dem Stiegenhaus an seinen Kleidern. Auf alle Fälle müßten Sie sich warm anziehen«, fügte er hinzu (ohne zu bemerken, wie empört meine Tante über die Idee war, sie solle imstande sein, den Glockenturm zu besteigen), »denn da oben herrscht ein eisiger Wind! Manche Leute behaupten, sie hätten eine wahre Grabeskälte verspürt. Dennoch kommen sonntags ganze Gruppen, oft von sehr weit her, um die Schönheit des Rundblicks zu genießen, und sind noch ganz erfüllt davon, wenn sie wieder gehen. Am nächsten Sonntag zum Beispiel würden Sie eine Menge Leute antreffen, weil ja da die Bittage sind. Man genießt auch wirklich oben ein märchenhaftes Panorama mit ein paar Ausblicken in die Ebene, die einzigartig sind. Bei klarem Wetter sieht man bis Verneuil. Vor allem hat man dort gleichzeitig vor Augen, was man gewöhnlich nur jedes für sich sehen kann, zum Beispiel den Lauf der Vivonne und die Gräben von Saint-Assise-lès-Combray, von denen der Fluß durch einen Vorhang von großen Bäumen getrennt ist, oder die verschiedenen Kanäle von Jouy-le-Vicomte ( Gaudiacus vice comitis , wie Sie wissen). Jedesmal wenn ich nach Jouy-le-Vicomte gekommen bin, habe ich zwar ein Stückchen Kanal gesehen, und wenn ich um die nächste Ecke ging, auch noch ein anderes, aber dann sah ich schon das vorige nicht mehr. In Gedanken konnte ich mir zwar die beiden gleichzeitig vorstellen, aber das ergab doch keinen Gesamteindruck. Vom Glockenturm von Saint-Hilaire aus aber ist das etwas anderes, das Ganze wirkt dann wie ein Netz, in dem der Ort gefangenliegt. Das Wasser erkennt man allerdings nicht, es sieht mehr aus, als sei das Landvon Erdrissen durchzogen, durch die die Stadt so sauber in Viertel eingeteilt wird wie eine Brioche, bei der die einzelnen Teile noch zusammenhalten, obwohl sie schon geschnitten sind. Das Beste wäre, man könnte gleichzeitig auf dem Turm von Saint-Hilaire und in Jouy-le-Vicomte sein.«
    Der Pfarrer hatte meine Tante so sehr ermüdet, daß sie sofort, nachdem er aufgebrochen war, auch Eulalie gehen ließ.
    »Kommen Sie, meine liebe Eulalie«, sagte sie mit schwacher Stimme, während sie in eine kleine Geldtasche griff, die stets in ihrer Reichweite lag, »hier ist etwas, damit Sie mich nicht in Ihren Gebeten vergessen.«
    »Oh, Madame Octave! Ich weiß nicht, ob ich das annehmen soll, Sie wissen doch, daß ich nicht deswegen komme!« meinte Eulalie jedesmal mit dem gleichen Zögern und der gleichen Verschämtheit, als wäre es das erste Mal; ja, auch ein Anschein von Mißvergnügen war dabei, der meine Tante erheiterte und nicht etwa verstimmte, so daß sie sogar, wenn Eulalie einmal das Geldstück etwas weniger unmutig entgegennahm, äußerte:
    »Ich weiß nicht, was die Eulalie heute hatte; ich habe ihr doch das gleiche wie immer gegeben, aber sie sah nicht zufrieden aus.«
    »Ich meine, sie kann sich doch nicht beklagen«, meinte Françoise, die alles, was sie selbst für sich oder ihre Kinder erhielt, als unbedeutende Summen zu betrachten geneigt war, jedoch als tolle Verschwendung zugunsten einer Undankbaren jenes kleine Geldgeschenk, das

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