Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit
sie neben einigen reichlich realistischen Details auch andere enthalten, die wirklich gute Beobachtungsgabe verraten. Aber mansoll mir nur nicht mit den Glasmalereien kommen. Ist das gesunder Menschenverstand, Fenster zu belassen, durch die kein Tageslicht dringt und deren undefinierbarer Farbton die Sicht völlig verändert, ausgerechnet in einer Kirche, in der keine zwei Steinplatten gleich hoch liegen, wo diese aber andererseits nicht ausgewechselt werden dürfen, weil es sich offenbar um die Gräber der Äbte von Combray und der Herren von Guermantes, der ehemaligen Grafen von Brabant, handelt, der direkten Vorfahren des jetzigen Herzogs von Guermantes und auch der Herzogin, da sie ein Fräulein von Guermantes ist, die ihren Vetter geheiratet hat?« (Meine Großmutter, die sich so wenig für andere Menschen interessierte, daß sie alle Namen durcheinanderwarf, behauptete jedesmal, wenn der Name der Herzogin von Guermantes erwähnt wurde, sie müsse eine Verwandte von Madame de Villeparisis sein. Alles lachte dann; sie versuchte sich darauf zu rechtfertigen, indem sie auf irgendeine alte Familienanzeige hinwies: »Ich meine mich doch zu erinnern, daß darin auch etwas von Guermantes war.« 1 In diesem einen Fall war ich dann mit den anderen gegen sie, da ich mir nicht vorzustellen vermochte, zwischen ihrer Pensionsfreundin und der Nachfahrin von Genoveva von Brabant könnte ein Band bestehen.) »Nehmen Sie zum Beispiel Roussainville, das ist heute nur noch eine Bauerngemeinde, obwohl in alten Zeiten diese Gegend ihren Aufschwung dem Handel mit Filzhüten und Pendülen verdankte. (Über die Etymologie von Roussainville bin ich nicht ganz sicher. Ich möchte annehmen, daß der erste Name Rouville – Radulf i villa – gewesen ist ähnlich wie bei Châteauroux – Castrum Radulf i –, doch davon ein andermal.) Was ich sagen wollte – die Kirche dort hat wundervolle Fenster, fast alle neu, darunter den großartigen Einzug Louis-Philippes in Combray , der eigentlich hier in Combray besseram Platze wäre und den berühmten Glasmalereien von Chartres ebenbürtig sein soll. Ich habe erst gestern den Bruder von Doktor Percepied getroffen, der sich in diesen Dingen auskennt und das Fenster für eine bedeutende Arbeit hält. Aber, wie ich auch zu diesem Künstler da, der übrigens einen netten, höflichen Eindruck macht und wirklich virtuos den Pinsel zu handhaben scheint, schon sagte: was kann man nur Außerordentliches an einem Kirchenfenster finden, das an Dunkelheit noch alle übrigen übertrifft?«
»Ich bin sicher, wenn Sie Monseigneur darum bäten«, warf meine Tante mit etwas leidender Stimme ein, denn sie begann zu fürchten, es möchte zuviel für sie werden, »würde er Ihnen ein neues Fenster bewilligen.«
»Meinen Sie, Madame Octave!« antwortete der Pfarrer. »Aber gerade Monseigneur hat ja soviel Tamtam um dieses unglückselige Fenster gemacht, indem er nachgewiesen hat, daß es Gilbert den Bösen darstellt, Herrn von Guermantes – den direkten Nachkommen von Genoveva von Brabant, die eine Demoiselle de Guermantes war –, wie er die Absolution des heiligen Hilarius erhält.« 1
»Aber vom heiligen Hilarius ist doch gar nichts zu sehen?«
»Doch, doch, haben Sie niemals in der Ecke des Fensters eine Frauengestalt in gelbem Gewand bemerkt? Sehen Sie, das ist Sankt Hilarius, der in manchen Provinzen Frankreichs auch ›Saint Illiers‹ oder ›Saint Hélier‹, im Jura sogar ›Saint Ylie‹ heißt. Diese verschiedenen Verstümmelungen von ›sanctus Hilarius‹ sind übrigens noch nicht die merkwürdigsten, die mit den Namen unserer Heiligen vorgenommen worden sind. Wissen Sie, meine gute Eulalie, was aus Ihrer Namenspatronin in Burgund geworden ist? Einfach ›Saint Éloi‹: sie ist zum männlichen Heiligen geworden. Können Siesich vorstellen, Eulalie, daß Sie nach Ihrem Tode zum Mann erklärt werden?«
»Der Herr Pfarrer hat auch immer etwas Spaßiges zu erzählen.«
»Der Bruder Gilberts, Karl der Stammler, ein frommer Fürst, der aber, nachdem er früh seinen Vater Pippin den Wahnsinnigen – dieser war an den Folgen seiner Geisteskrankheit gestorben – verloren hatte, die höchste Macht mit der ganzen Anmaßung eines jungen Mannes ausübte, dem die strenge Zucht gefehlt hat, ließ, sobald ihm das Gesicht eines Einwohners einer Stadt nicht gefiel, darin alle bis zum letzten Mann niedermachen. Um sich an Karl zu rächen, ließ Gilbert die Kirche von Combray niederbrennen, das heißt die alte
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