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Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Titel: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Proust
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eingelassen zu werden, erinnert ihn das Geräusch eines Löffels an die Baumgruppe im Sonnenlicht auf der Rückfahrt nach Paris, die Appretur einer Serviette an die Tage in Balbec und etwas später ein Exemplar von François le Champi an eine denkwürdige Nacht in Combray. Gleichzeitig mit den Orten (Venedig, Balbec, Combray) erinnert sich Marcel (und der Leser) aber auch an frühere ekstatische Erfahrungen: Erinnerungsekstasen, ausgelöst durch den Geschmack einer Madeleine oder den Modergeruch in einer Toilettenanlage; Kontemplationsekstasen vor drei Kirchtürmen in der Gegend von Combray oder drei Bäumen in der Gegend von Balbec; Kunstekstasen beim Lesen von Bergotte, beim Betrachten der Bilder Elstirs und beim Hören von Vinteuils Musik. Diesmal ist Marcel entschlossen, der Sache auf den Grund zu gehen, das heißt, den Grund jenes Glücksgefühls herauszufinden. Wie und weshalb ihm das gelingt, wird nicht näher ausgeführt. Offenbar genügt das wiederholte Auftreten der mémoire involontaire , um Marcel die Augen zu öffnen und ihm eine Psychologie des Künstlertums sowie eine ästhetische Theorie zuzutragen. In ähnlicher Weise genügte es zu Beginn von Sodom und Gomorrha , Marcel die Begegnung zwischen Charlus und Jupien vorzuführen, um ihm ein komplettes Wissen in Sachen Homosexualität zu vermitteln.
    Mit anderen Worten: Proust brauchte einen erzählerischen Vorwand, um endlich seine Ideen zur Homosexualität (in Sodom und Gomorrha ) beziehungsweise (in der Wiedergefundenen Zeit)zur Kunst, zum Künstlertum und zum Roman vortragen zu können. So wird in dieser Szene der Autor zur dominanten Instanz. Er übernimmt die Rolle des Erzählers und verleiht dem Protagonisten sein Wissen. Trotzdem tut man gut daran, den Roman, den Marcel in der Bibliothek des Fürsten von Guermantes entwirft, nicht mit Marcel Prousts À la recherche du temps perdu gleichzusetzen. Prousts Roman sprengt die in der Wiedergefundenen Zeit vorgetragene totalisierende Ästhetik, nicht nur weil Prousts Schreiben ein »Schreiben ohne Ende« ist (Rainer Warning), sondern auch weil es Dimensionen birgt, die nur durch ein Lesen ohne Ende erschlossen werden können. Aus der Sicht des Künstlers hat Proust in »Sur la lecture« (1905) das Lesen als eine Vorstufe zum Schreiben bezeichnet, ein Gedanke, den er nun räumlich inszeniert, wenn er den zukünftigen Schriftsteller die Gewißheit, sein Werk nun in Angriff nehmen zu können, in einer Bibliothek finden läßt.
    In der folgenden Szene jedoch, dem bal de têtes , wird diese Gewißheit in Frage gestellt. Die eben vorgenommene Begründung des Kunstwerks in einer inneren Zeit beziehungsweise einer absoluten Zeit jenseits der Zeitlichkeit erscheint plötzlich durch die reale Zeit gefährdet. Als Marcel in den Guermantesschen Salon tritt, glaubt er sich auf einem Maskenball, so sehr hat die Zeit seine früheren Bekannten verändert. An dem Alter der anderen erkennt er das eigene und wie wenig Zeit ihm bleibt, um den eben gefaßten Entschluß auszuführen. Unter dem Eindruck dieser Greisenversammlung nimmt er sich zum Vorsatz, in seinem Roman nicht nur die innere Zeit des Menschen, sondern auch den Menschen in der äußeren Zeit darzustellen – dans le Temps . Danach folgt das Wort Fin .
    Während der erste Teil der Matinee Guermantes mit den Erinnerungs-, Kontemplations- und Kunstekstasen sowie dem Romanprojekt Marcels vornehmlich von der inneren Entwicklung des Romanhelden handelt, führt uns Proust im zweiten Teil, dem bal de têtes , ein letztes Mal die Personen seines Romans vor Augen und läßt uns auf die reale Zeit der Handlung zurückblicken. Von den Personen zeichnet Proust satirische, oft dem Kubismus verpflichtete Porträts; der Rückblick aber erfolgt an mancher Stelle nur in Form von in Klammern aufgereihtenStichworten. In jedem Fall aber ist nicht zu übersehen, daß À la recherche du temps perdu ein streng komponiertes Ganzes ist, daß jedes vermeintlich noch so unscheinbare Detail am Ende seine Bedeutung findet. Als Exempelfigur für das Zusammentreffen aller Beziehungslinien im Roman dient Mademoiselle de Saint-Loup, die Tochter von Gilberte Swann und Robert de Saint-Loup.

    Versucht man, die in der Wiedergefundenen Zeit erzählten Ereignisse mit der realen Zeitgeschichte in Beziehung zu setzen, so kann von den beiden Aufenthalten Marcels in Paris ausgegangen werden, die ausdrücklich datiert sind: 1914 und 1916. Das hat Proust freilich nicht davon abgehalten, Geschehnisse aus

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