Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit
späteren Kriegsjahren in den Kommentaren von Robert de Saint-Loup und Monsieur de Charlus zur Sprache zu bringen. Für den Aufenthalt in Tansonville haben wir in unserem Nachwort zu Die Flüchtige ein Datum kurz nach der Venedig-Reise vorgeschlagen. Diese Datierung muß aber korrigiert werden, denn Robert erwähnt in der Tansonville-Episode die Schlacht bei Burgas (Oktober 1912). Die Matinee Guermantes schließlich spielt mehrere Jahre nach dem Krieg. Doch jeder Versuch, die Handlung der Recherche zu datieren, muß scheitern. Mit Absicht hat Proust nicht nur die äußere, sondern auch die innere Chronologie seines Romans im Vagen belassen. So ist es ebenso unmöglich wie unnötig, etwa die Matinee Guermantes genau zu datieren oder das genaue Alter der dort auftretenden Personen zu bestimmen. Wäre Madame Verdurin tatsächlich das Modell von Fromentins Madeleine, wie das im Goncourt-Pastiche behauptet wird, dann wäre sie als Fürstin von Guermantes eine Hundertjährige. Oder der Protagonist selbst: Wenn man annimmt, er sei 1881 geboren und die Matinee finde 1925 statt, dann wäre er dort ein Mann im besten Alter und keineswegs der alte Mann, als den er sich plötzlich in den Reaktionen seiner Gegenüber oder beim Anblick seines Schulkameraden Bloch erkennt. Die reale Zeit ist wohl ein Thema in Marcels Romanprojekt und in Prousts Roman, sie dient jedoch nicht als Meßlatte für die geschilderten Ereignisse und Personen.
Die Entstehungsgeschichte der letzten Teile der Recherche ist ein besonders gut erforschtes und dokumentiertes Gebiet der neueren Proust-Kritik. Henri Bonnet und Bernard Brun haben unter dem Titel Matinée chez la princesse de Guermantes. Cahiers du »Temps retrouvé« [9] 1982 die frühesten Entwürfe der Schlußszene publiziert, und die neueren Ausgaben von Bernard Brun [5], Brian Rogers et al. [3] und Eugène Nicole [7] gehen zum Teil detailliert auf die Probleme der Textgenese ein. Wir beschränken uns auf eine summarische Darstellung.
Was der Protagonist von Prousts Roman in der Bibliothek des Fürsten von Guermantes entdeckt, weiß der Autor von allem Anfang an. In ihren Grundzügen hat sich Marcel Proust seine ästhetische Theorie während seines Philosophiestudiums an der Sorbonne 1893-1895 zurechtgelegt. In den meist unpubliziert gebliebenen Essays aus den folgenden Jahren (1895-1899) zu Chardin, Rembrandt, Moreau oder Monet hat er gezeigt, wie der Künstler im kontemplativen Betrachten der Dinge und im Hinhören auf die innere Stimme seinen persönlichen Stil findet. In dem gleichzeitig entstandenen Romanfragment Jean Santeuil zeigt er auch, wie die unwillkürliche Erinnerung uns der Zeit entheben und in jene innere Welt entführen kann, in der die Kunst gründet. Auch in seinen Ruskin-Studien (1900-1905), in denen er im Zusammenhang mit Ruskins Religion der Schönheit zum erstenmal den Begriff adoration perpétuelle verwendet, vertritt Proust die These, der Künstler könne sich anderen nur mitteilen, wenn er sich selbst, seinem inneren Wesen, treu bleibt. Dieser Gedanke liegt auch dem Projekt für ein Werk in den Jahren 1908-1909 zugrunde, in dem Proust die Methode Sainte-Beuves wiederlegen wollte. Wir haben dieses Projekt in unserer Ausgabe des Gegen Sainte-Beuve [24] beschrieben und gezeigt, wie im Laufe des Jahres 1909 aus dem Sainte-Beuve-Projekt ein Roman, die spätere Recherche , geworden ist. In den Entwürfen und Ideenskizzen aus den Jahren 1908 und 1909 finden sich manche Texte, die Proust in seinem Roman und besonders im letzten Teil seines Romans wiederverwendet hat. So notiert Proust beispielsweise in seiner Agenda im Sommer 1908 einen Text über seine Empfindungslosigkeit angesichts von Bäumen im Sonnenlicht, den er später beinaheunverändert in das Manuskript des Romans übernommen hat; oder im Herbst desselben Jahres eine Erfahrung unwillkürlicher Erinnerung, bei der ihm nicht nur eine unebene Bodenplatte des Baptisteriums von San Marco in Erinnerung gerufen, sondern die ganze Schönheit Venedigs wiedergeschenkt wurde. Aus derselben Zeit stammt der Entwurf zu einem Vorwort des Gegen Sainte-Beuve , in dem Proust den Vorrang des Gefühls gegenüber dem Verstand postuliert und seine These mit fünf Beispielen unwillkürlicher Erinnerung belegt: Der Geschmack eines gerösteten, in Tee getunkten Brotes erinnert an ein sommerliches Landhaus; eine unebene Pflästerung an Venedig; das Geräusch eines Löffels an Bäume im Sonnenlicht; beim Anblick eines Stücks grünen Stoffs
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