Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit
wie auch einer Baumgruppe am Weg tritt zwar das Glücksgefühl ein, doch bleibt das Erinnerungsbild verborgen. Später hat Proust diese Beispiele weiterentwickelt und in seinem Roman verteilt. Nur zu Beginn der Matinee Guermantes, wo es wie im Vorwort zum Gegen Sainte-Beuve eine These zu illustrieren gilt, treten sie noch einmal in gedrängter Folge auf.
Am 16. August 1909 schreibt Proust an Mme. Straus: »Sie werden mich lesen – und vielleicht mehr, als Ihnen lieb ist –, denn ich habe soeben ein langes Buch begonnen – und beendet.« Was hat das zu bedeuten? Proust hat inzwischen das Sainte-Beuve-Projekt aufgegeben und im Juni im Cahier 8 eine erste zusammenhängende Version eines Romananfangs geschrieben: Combray ohne die Spaziergänge in die Gegend von Méséglise und in die Gegend von Guermantes. Gleich darauf hat er im Cahier 51 auch einen Romanschluß entworfen, die erste Version des bal de têtes : eine Einladung bei der Fürstin von Guermantes mit den greisenhaften Gästen, gefolgt von einer Soiree im Theater, wo sich der Faubourg Saint-Germain zur Schau stellt. In der Folge (gegen Ende des Jahres 1910) schrieb Proust in den Cahiers 58 und 57 eine neue Fassung der Matinee Guermantes. Die Soiree im Theater entfällt, doch hat Proust die Idee, die Gesellschaft in dem Zuschauerraum eines Theaters zur Schau zu stellen, in Guermantes wiederaufgenommen. In der neuen Fassung besteht die Matinee im wesentlichen bereits aus l’adoration perpétuelle und le bal de têtes . Die Tatsache, daßder Romanheld nun sein Heil findet, wird dadurch unterstrichen, daß während der Szene in der Bibliothek des Fürsten im Salon ein Akt aus Wagners Parsifal gespielt wird. Bei den Erklärungen zum Grund des Glücksgefühls, das die unwillkürliche Erinnerung in uns bewirkt, und bei den Überlegungen zu François le Champi hat Proust längere Passagen aus dem bereits bestehenden Typoskript des Romananfangs herausgeschnitten und in die Schlußszene integriert. Alles Erklärende hat er an den Schluß verlegt, gleichzeitig aber auch die Fragen des Anfangs betont, beispielsweise mit der jetzt in der Madeleine-Episode eingefügten Klammer : »(obwohl ich noch immer nicht wußte und auch erst späterhin würde ergründen können, weshalb diese Erinnerung mich so glücklich machte)«. An dieser Fassung hat Proust während mehrerer Jahre durch unzählige Korrekturen und Zusätze weitergearbeitet. So ersetzt er beispielsweise ungefähr 1913 den Wagnerschen Parsifal durch ein Streichquartett Vinteuils. Später hat Proust die musikalischen Teile aus der Matinee Guermantes herausgenommen und in eine der schönsten Szenen der Recherche , die Aufführung von Vinteuils Septett auf einer Soiree bei den Verdurins in der Gefangenen , eingebaut. Bekanntlich hat sich Proust während der ersten Kriegsjahre in erster Linie mit den um Albertine kreisenden Teilen seines Romans beschäftigt. Danach hat er – was die Wiedergefundene Zeit betrifft – die Kapitel über Robert de Saint-Loups Homosexualität und über Monsieur de Charlus im Krieg sowie das Goncourt-Pastiche entworfen. Während Proust bisher (in Unterwegs zu Swann , Sodom und Gomorrha und Die Gefangene ) den Verdurinschen Salon in der zeitlichen Abfolge seiner verschiedenen Ausformungen gezeigt hat, ändert er jetzt den Blickwinkel, betrachtet ihn aus der Sicht und beschreibt ihn im Stil der Brüder Goncourt. In dieser Phase kommt ihm auch der herrliche Gedanke, in der Matinee Guermantes die Rolle der Fürstin nicht, wie bisher geplant, mit Madame de Saint-Euverte, sondern mit Madame beziehungsweise Ex-Madame Verdurin zu besetzen. So wird die bei dem Fürsten von Guermantes versammelte Gesellschaft zur letzten Erscheinungsform des Verdurinschen Salons. Was gemeint ist, wenn Proust erklärt, in seinem Roman die Zeit darstellen zu wollen,läßt sich an der Geschichte dieses Salons ablesen, die vor der Geburt Marcels beginnt und lange Zeit nach dem Ersten Weltkrieg endet. In den Jahren 1917-1918 hat Proust eine Reinschrift der noch unveröffentlichen Teile der Recherche hergestellt, diese aber auch weiterhin mit Korrekturen und Zusätzen versehen, auch nachdem er im Frühjahr 1922 auf die letzte Seite das Wort Fin gesetzt hatte. Zahlreiche Ungereimtheiten – Doubletten, Einschübe, Brüche, Sprünge, kaum verständliche Sätze – führen auch dem philologisch wenig aufmerksamen Leser vor Augen, daß es sich bei dem Text der Wiedergefundenen Zeit um eine Rohfassung handelt. Wir haben die
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