Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit
gesteckt; sein Liftboy will zur Luftwaffe – eine schöne Gelegenheit, Lift, Flugzeug und Karriere in Parallele zu setzen; Françoise läßt sich von dem Kammerdiener durch seine Schauergeschichten in helle Aufregung versetzen; Gilberte flieht aus dem bedrohten Paris nach Tansonville. Später behauptet sie jedoch, sie sei nach Tansonville geeilt, um ihr Haus vor der Invasion zu beschützen. Die Gegend von Combray, die Proust aus der Beauce in die Champagne versetzt hat, liegt jetzt auf der Frontlinie, und die Schlacht, die um Méséglise geschlagen wird, ist jener von Verdun nachgebildet. Wie zu den Zeiten, als Marcel in Doncières weilte, betraut Proust Robert de Saint-Loup mit der Rolle des kriegsgeschichtlichen Kommentators. Der eigentliche Protagonist der Handlung ist aber ein weiteres Mal Monsieur de Charlus. Während der Krieg Madame Verdurin zu gesellschaftlichem Glanz verhilft, läßt er den Glanz ihres Gegners verblassen. Wegen seiner notorischen Deutschfreundlichkeit ist der Baron während des Kriegs nicht mehr salonfähig. Außerdem wird seine Salonfähigkeit dadurch beeinträchtigt, daß seine Gedanken, Reden und Handlungen immer ausschließlicher von seiner Veranlagung bestimmt werden. So zeigt ihn Proust in einer längeren Szene mit Marcel, der sich zu den Verdurins begibt, wie er die Kriegskommentare vonNorpois und Brichot zwar scharfsinnig kritisiert, letztlich aber als Erklärung dieser Allianz oder jener Kriegserklärung nur die Homosexualität dieses Kaisers oder jenes Zaren anzuführen weiß. Er zeigt ihn auch, wie er inmitten der bunten Menge junger Soldaten auf Urlaub seinen Neigungen nachgeht. Das Kernstück dieses Romanteils aber ist das von Jupien im Auftrag von Monsieur de Charlus eingerichtete Etablissement. Es ist eine maison de passe , und tatsächlich kreuzen sich hier die Wege der Hauptpersonen dieses Romanteils: Saint-Loup, Charlus und Marcel, Saint-Loup und Charlus als handelnde Personen, Marcel als Beobachter. Man fühlt sich an frühere Szenen der Recherche erinnert, an Montjouvain, an die Begegnung von Charlus und Jupien oder an das Bordell in Maineville. Wieder inszeniert Proust die Homosexualität – wenn der Baron sich geißeln läßt oder inmitten seines Harems junger Soldaten und Verbrecher auftritt – als ein Schauspiel: Tragödie, Komödie und auch Opéra-bouffe in einem. Schließlich erfährt diese Stätte des Lasters im Feuerregen eines Bombenangriffs und mit den Bezügen auf Sodom und Pompeji eine Art mythischer Überhöhung. Der Schluß dieses Romanteils ist antithetisch komponiert: Bei seinem Besuch in Jupiens Bordell läßt Saint-Loup sein Kriegskreuz liegen; kurz darauf fällt er im heldenhaften Einsatz für seine Mannschaft. Morel wird als Deserteur gefaßt und an die Front geschickt, von wo er dekoriert zurückkehrt.
Dank einem weiteren Aufenthalt Marcels in einem Sanatorium vergehen erneut Jahre, so daß die nun beginnende Schlußszene des Romans lange nach dem Krieg spielt. Auf der Rückfahrt nach Paris betrachtet Marcel eine Baumgruppe im Sonnenlicht, ohne dabei das geringste zu empfinden. In der Überzeugung, das Schöpfertum werde ihm nun infolge seiner Empfindungslosigkeit ohnehin auf ewig verschlossen bleiben, begibt er sich zu einer Matinee bei der Fürstin von Guermantes. Unterwegs trifft er auf Monsieur de Charlus. Dieser letzte Auftritt des Barons ist beeindruckend. Proust verleiht seiner Figur die Züge eines König Lear und eines Ödipus sowie die Rhetorik eines Bossuet und eines Chateaubriand. Doch drängt die Recherche nun ihrem Ende zu. Der letzte Teil des Romans, die Matinee bei der Fürstin von Guermantes, ist in zwei längere Szenengegliedert. Die erste bezeichnet Proust – in Entwürfen und Vorankündigungen, nicht aber im Manuskript – mit l’adoration perpétuelle , die zweite mit le bal de têtes . Im ursprünglichen, religiösen Sinn meint adoration perpétuelle die ewige Anbetung der Hostie; bal de têtes meint einen Ball, bei dem die Gäste – im Gegensatz zum Kostümfest – nur Gesicht oder Kopf maskieren.
Als Marcel bei den Guermantes eintrifft, verfällt er mehrmals in einen Zustand euphorischer Ekstase. Ausgelöst wird das Glücksgefühl jeweils durch einen einfachen Sinneseindruck, der sich im nachhinein als ein Erinnerungsphänomen herausstellt. Im Hof der Guermantes läßt ein unebener Pflasterstein plötzlich die Erinnerung an Venedig aufleben; in der Bibliothek des Fürsten, wo Marcel darauf wartet, in den Salon
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