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Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Titel: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Proust
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als Köche verdingen, klopfte die Kohle klein, brachte Kartoffeln zum Weichwerden in den Dampf und ließ auf dem Feuer kulinarische Meisterwerke gar werden, die zuvor in irdenen Gef äßen, von großen Bottichen, Schüsseln, Kesseln und Fischbassins bis zu Terrinen für die Wildpastete, Kuchenformen und kleinen Rahmschüsselchen, vorbereitet wurden, wozu noch eine vollständige Sammlung von Kochtöpfen aller Größen kam. Ich blieb beim Tisch stehen, an dem das Küchenmädchen grüne Erbsen enthülst und dann in abgezählten Häufchen aufgereiht hatte wie kleine grüne Kugeln für ein Spiel; besonders aber die Spargel hatten es mir angetan: sie schienen in Ultramarin und Rosa getaucht, und ihre mit feinen Pinselstrichen in zartem Violett und Himmelblau gemalten Ähren wurden zum Fuß hin – der allerdings noch Spuren trug vom Boden ihres Feldes – immer blässer, in unmerklichen, irisierenden Abstufungen, an denen nichts Irdisches haftete. Es schien mir, daß diese himmlischen Tönungen das Geheimnis von köstlichen Geschöpfen enthüllten, die sich aus Neckerei in Gemüse verwandelt hatten und durch ihre aus feinem eßbaremFleisch bestehende Verkleidung hindurch in diesen Farben der zartesten Morgenröte, in diesen hinschwindenden Nuancen von Blau jene kostbare Essenz verrieten, die ich noch die ganze Nacht hindurch, wenn ich am Abend davon gegessen hatte, in den nach Art Shakespearescher Märchenstücke gleichzeitig poetischen und derben Possen wiedererkannte, die sie zum Spaß aufzuführen schienen, wenn sie sogar noch mein Nachtgeschirr in ein Duftgef äß verwandelten. 1
    Die arme Caritas von Giotto, wie Swann sie nannte, die von Françoise beauftragt war, sie zu schälen, hatte sie in einem Korb dicht neben sich stehen; ihre Miene war jammervoll, als trüge sie alle Leiden der Welt; die leichten Azurkrönchen aber, die die Spargel oberhalb ihrer rosa Halskrause trugen, waren Stern für Stern so fein gezeichnet wie die zu Girlanden geflochtenen Blumen an der Stirn und im Korb der Tugend von Padua. Inzwischen bereitete Françoise eines jener Hähnchen am Spieß, durch die ihre Verdienste weithin durch Combray ruchbar geworden waren und die, während sie uns bei Tisch vorgelegt wurden, in meiner privaten Vorstellung von ihrem Charakter die Süße vorherrschen ließen, dem Geschmack des Fleisches entsprechend, das sie uns so schmelzend zart zu bereiten verstand, und der in meiner Phantasie zum spezifischen Duft einer ihrer Tugenden wurde.
    Der Tag, an dem ich, während mein Vater den Familienrat wegen der Begegnung mit Legrandin befragte, in die Küche hinunterging, war jedoch einer derjenigen, an dem die Caritas von Giotto, noch sehr mitgenommen von ihrer vor kurzem erfolgten Niederkunft, nicht hatte aufstehen können; ohne alle Hilfe war Françoise mit der Arbeit im Rückstand. Als ich unten ankam, war sie gerade dabei, im Küchenanbau, der auf den Hühnerhof ging, einem Hähnchen den Garaus zu machen, das inseiner verzweifelten, sehr begreiflichen Gegenwehr, die von der zutiefst empörten Françoise, während sie ihm den Hals unterhalb der Ohröffnung zu durchschneiden versuchte, mit dem Ausruf: »Mistvieh, elendiges Mistvieh!« begleitet wurde, die Sanftmut und schmelzende Güte unserer Dienerin in einem weniger vorteilhaften Licht erscheinen ließ als am folgenden Tag, wo es in seiner nach Art eines Meßgewandes mit Gold inkrustierten Haut und seinem köstlichen, wie aus einem Ciborium 1 rinnenden Saft auf der Tafel figurierte. Als es endlich tot war, wischte Françoise das Blut auf, das ihren Groll offenbar nicht hatte ersäufen können; vielmehr bekam sie einen erneuten Wutanfall, und mit einem Blick auf den Leichnam ihres Feindes rief sie noch einmal: »Mistvieh, elendiges!« Bebend ging ich die Treppe hinauf; ich hätte es am liebsten gesehen, wenn Françoise auf der Stelle entlassen worden wäre. Wer aber hätte mir dann so schön heiße Wärmflaschen in mein Bett gelegt, wer einen so duftenden Kaffee bereitet, und wer … schließlich solche Poulets? … Tatsächlich aber hatten alle anderen wie ich dieses feige Kalkül auch schon angestellt. Denn meine Tante Léonie wußte – was mir damals unbekannt war –, daß Françoise, die für ihre Tochter, ihre Neffen klaglos ihr Leben hingegeben hätte, anderen gegenüber bemerkenswert hart sein konnte. Dennoch hatte meine Tante sie behalten, denn sie kannte zwar ihre Grausamkeit, schätzte ihre Dienste aber doch sehr. Allmählich gingen mir die Augen

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