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Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Titel: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Proust
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Léonie«, entgegnete Mama. »Ich meinte, Françoise hätte uns durch die kleine Tür vom Küchengarten hinausgehen sehen.«
    Denn es gab in der Umgebung von Combray zwei »Richtungen« für Spaziergänge, die einander so entgegengesetzt waren, daß wir nicht einmal durch diegleiche Pforte aufbrachen, wenn wir nach der einen oder anderen Seite gehen wollten: die Gegend von Méséglisela-Vineuse, die auch als Gegend von Swann bezeichnet wurde, weil wir dort an dem Besitztum von Monsieur Swann vorbeikamen, und die Gegend von Guermantes. 1 Von Méséglise-la-Vineuse habe ich, wie ich gestehen muß, nie mehr als die »Gegend« gesehen und ein paar fremde Menschen, die am Sonntag in Combray spazierengingen, Leute, die diesmal wirklich weder wir noch unsere Tante »kannten« und die man auf diesen Augenschein hin für »Leute aus Méséglise« hielt. Guermantes hingegen sollte ich eines Tages näher kennenlernen, aber viel später erst; und wenn während meiner ganzen Jugend Méséglise etwas so Unerreichbares blieb wie der Horizont, etwas, das, wie weit man auch ging, doch stets den Blicken durch die Erhebungen eines Geländes entzogen blieb, das schon nicht mehr demjenigen von Combray glich, so kam mir auch Guermantes eher als ein idealer denn als ein wirklicher Endpunkt der nach ihm bezeichneten »Gegend« vor, als eine Art von abstrakter, geographischer Bezeichnung wie Äquator, wie Pol, wie Orient. »Über Guermantes« nach Méséglise zu gehen oder umgekehrt wäre mir als eine ebenso sinnlose Wendung erschienen, wie wenn man nach Osten aufbrechen wollte, um gen Westen zu gehen. 2 Da mein Vater immer von der Gegend um Méséglise als von dem schönsten Ausblick in die Ebene sprach, den er überhaupt kannte, und von der Gegend um Guermantes als der idealen Flußlandschaft, gab ich beiden, indem ich sie als zwei Wesenheiten begriff, jenen inneren Zusammenhang und jene Einheit, die nur den Schöpfungen unseres Geistes eigen ist; der geringste Teil davon schien mir kostbar und eine Bekundung ihrer speziellen Vollkommenheit, während neben ihnen – bevor man den geheiligten Boden der einen oder anderen betreten hatte – dierein materiellen Wege, in deren System sie als ideale Ansicht der Ebene und ideale Flußlandschaft eingefügt waren, einen Blick ebensowenig verdienten wie für einen leidenschaftlich der dramatischen Kunst ergebenen Zuschauer die kleinen Straßen in der Nachbarschaft eines Theaters. Vor allem aber legte ich zwischen sie weit mehr als die in Kilometern ausdrückbare Entfernung jene andere, die zwischen den beiden Teilen meines Gehirns bestand, in denen ich an sie dachte, eine jener Distanzen im geistigen Bereich, die die Dinge nicht nur auseinanderhalten, sondern wirklich trennen und auf verschiedene Ebenen verweisen. Diese Absonderung wurde dadurch noch endgültiger, daß wir die Gewohnheit hatten, niemals am gleichen Tag auf einem einzigen Spaziergang nach beiden Seiten zu gehen, sondern vielmehr einmal nach Méséglise zu und einmal in Richtung Guermantes; dadurch wurden die beiden Gegenden weit voneinander, unerkennbar füreinander in die undurchlässigen, verbindungslosen Gef äße verschiedener Nachmittage eingeschlossen.
    Wenn wir in Richtung Méséglise gehen wollten, brachen wir (nicht allzufrüh und selbst bei bedecktem Himmel, weil der Spaziergang nicht sehr lang war und nicht allzusehr anstrengte) genau wie für jeden beliebigen Ausgang durch die große Eingangstür des Hauses meiner Tante an der Rue du Saint-Esprit auf. Wir wurden von dem Büchsenmacher gegrüßt, warfen unsere Briefe ein, verständigten Théodore im Auftrag von Françoise, daß sie keinen Kaffee oder kein Öl mehr habe, und verließen die Stadt auf dem Weg, der an dem weißen Gatter des Parks von Swann vorbeiführte. Bevor wir dorthin gelangten, strömte uns schon der jeden Näherkommenden begrüßende Duft seiner Flieder entgegen. Die Flieder selbst streckten zwischen den frischen grünen Herzchen der Blätter ihre violetten oderweißen Helmbüsche, auf denen selbst im Schatten noch die Sonne zu flimmern schien, in der sie gebadet hatten, neugierig über das Gatter. Einige von ihnen, die halb hinter dem kleinen Ziegelhaus, dem sogenannten Bogenschützenhaus, in dem der Parkwächter wohnte, verborgen blieben, schauten mit ihrem rosa Minarett über den gotischen Giebel hinweg. Frühlingsnymphen hätten plump gewirkt neben den jungen Huris, die in diesem französischen Garten die klaren, lebendigen Farben persischer

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