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Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Titel: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Proust
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meinen Blick mit den Händen abschirmte, um nichts weiter zu sehen: das Gefühl, das er in mir weckte, blieb dunkel und unbestimmt, versuchte vergebens, sich loszulösen und die Verbindung mit den Blüten einzugehen. Sie halfen mir nicht, es wirklich deutlich zu machen, und von anderen Blumen konnte ich nicht verlangen, dieses Gefühl zu klären. Da aber schenkte mir mein Großvater die Freude, die wir empfinden, wenn wir auf ein Werk unseres Lieblingsmalers stoßen, das von den uns bekannten verschieden ist, oder wenn man uns vor ein Bild führt, von dem wir bislang nur eine Bleistiftskizze gesehen haben, oder wenn ein Stück, das wir nur auf dem Klavier gehört haben, durch eine Orchesteraufführung seine wahre Vielfarbigkeit erhält, denn er sagte zu mir, indem er auf die Hecke von Tansonville wies: »Du hast doch den Weißdorn so gern, schau her, hier gibt es einen mit rosa Blüten, er ist wirklich hübsch!« Tatsächlich war es auch ein Dornstrauch, doch rosa, noch köstlicher als die weißen. Auch er war geschmückt wie für ein Fest – eines jener einzig wirklichen Feste, wie es nur kirchliche Festtage sind, da sie ja nicht wie weltliche durch eine Zufallslaune an einen beliebigen Tag geheftet werden, der nicht extra für sie vorgesehen ist und nichts im tiefsten Wesen Feiertagsmäßiges besitzt –, aber noch reicher, denn die Blüten, die an den Zweigen so dicht übereinanderstanden, daß sie wie die Pompons an einem Rokokohirtenstab keine Stelle ungarniert ließen, waren »farbig« und somit von besserer Qualität nach den Gesetzen der Ästhetik von Combray, jedenfalls nach der Staffelung der Preise im »Warenhaus« am Platz oder bei Camus zu schließen, worosa Kekse teurer waren als andere. Auch mir galt rosa Sahnequark mehr, jener, den ich mit zerdrückten Erdbeeren hatte mischen dürfen. Diese Blüten aber hatten sich gerade einen jener Farbtöne ausgesucht, wie man sie an eßbaren Dingen oder an liebenswerten, einer Festtagstoilette hinzugefügten Kleinigkeiten sieht, Farbtöne, die, weil sie ihnen den Grund ihrer Überlegenheit vor Augen führen, für Kinder am offenkundigsten schön sind und deshalb später für sie immer etwas Lebendigeres und Natürlicheres behalten als alle anderen Tönungen, selbst wenn sie begriffen haben, daß sie dem Geschmacksempfinden keine besonderen Reize boten oder von der Schneiderin nicht eigentlich mit Absicht ausgewählt worden waren. Und tatsächlich hatte ich, wie vor dem Weißdorn, nur mit noch größerem Entzücken gespürt, daß das festtägliche Bestreben in den Blüten sich nicht künstlich, nicht durch einen Kunstgriff menschlicher Herstellung kundtat, sondern daß sie von der Natur selbst, als sie den Strauch mit diesen Rosetten von allzu liebenswürdiger Tönung und allzu provinziellem Pompadour-Stil überlud, mit der Naivität einer Dorfkrämerin, die einen Fronleichnamsaltar zubereitet, zum Ausdruck gebracht wurde. Oben an den Zweigen sproßten in überwältigender Fülle, ähnlich den kleinen Rosenstöcken in ihrer Manschette aus Spitzenpapier, deren zarten Farbtupfenregen bei großen Festen man auf dem Altar aufleuchten ließ, tausend kleine Knospen von blasserem Ton, die, wenn sie sich ein wenig öffneten, wie auf dem Grund einer Schale aus rosa Marmor eine Art Rötelzeichnung sehen ließen und die, mehr noch als die ganz offenen Blüten, die besondere, unwiderstehliche Wesensart dieser Gattung verrieten, die überall, wo sie Knospen trieb und ihre Blüten öffnen wollte, es nur »in Rosa« tun konnte. Eingefügt in die Hecke, und doch ebenso verschieden von ihr wie ein jungesMädchen im Festgewand von Personen im Negligé, die zu Hause bleiben, bereit für die Maiandacht, zu der er schon ganz zu gehören schien, erstrahlte lächelnd, in seinem frischen rosa Gewand, der katholische, köstliche Strauch.
    Durch die Hecke hindurch sah man im Innern des Parks einen Weg, der mit Jasmin, Stiefmütterchen und Verbenen eingefaßt war, zwischen denen Levkojen ihre taufrischen Täschchen in einem wie altes Korduanleder duftenden und etwas vergilbten Rosa öffneten, während auf dem Kiesweg ein langer grüngestrichener Gartenschlauch in vielen Windungen sich hinzog und aus seinen Öffnungen über den Blumen, deren Duft er durchfeuchtete, den senkrecht aufgestellten, als Prisma wirkenden Fächer seiner in allen Farben spielenden Tröpfchen aufsteigen ließ. Auf einmal blieb ich regungslos stehen wie vor einer Vision, die nicht nur die Blicke fesselt, sondern auch

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