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Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Titel: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Proust
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Miniaturen in sich verkörperten. Trotz meines Verlangens, ihre schlanke Gestalt zu umfangen, die mit Sternen besetzten Locken ihrer duftenden Häupter an mich heranzuziehen, gingen wir weiter, ohne zu verweilen, denn meine Eltern besuchten Tansonville nicht mehr seit der Heirat Swanns, und damit es nicht so aussah, als wollten wir in den Park hineinschauen, schlugen wir anstatt des Weges, der an der Einfriedung entlang unmittelbar in die Felder führte, einen anderen ein, der gleichfalls, aber von der Seite her und erst an einem späteren Punkt in sie einmündete. Eines Tages sagte mein Großvater zu meinem Vater:
    »Erinnern Sie sich, daß Swann gestern gesagt hat, seine Frau und seine Tochter würden nach Reims 1 fahren und er werde die Zeit nutzen, selbst vierundzwanzig Stunden in Paris zu verbringen? Wir könnten also gut am Park entlanggehen, da ja die Damen nicht anwesend sind; wir kürzen den Weg dadurch ab.«
    Einen Augenblick blieben wir vor dem Gatter stehen. Die Fliederzeit ging ihrem Ende zu; einzelne Zweige ließen noch auf hohen malvenfarbenen Leuchtern die zarten Bläschen ihrer Blüten leuchten, doch in vielen Partien des Laubwerks, wo sie vor einer Woche ungefähr noch duftend aufgeschäumt waren, welkten sie jetzt als schrumpfendes, nachgedunkeltes, hohles, trokkenes, duftlos gewordenes Gekräusel dahin. MeinGroßvater setzte meinem Vater auseinander, inwieweit der Ort sein Aussehen beibehalten und worin er sich verändert hätte seit jenem Spaziergang, den er mit dem alten Swann an dem Tage gemacht hatte, als dessen Frau gestorben war, und ergriff die Gelegenheit, die Einzelheiten dieses Spaziergangs noch einmal genau zu schildern.
    Unmittelbar vor uns führte eine mit Kapuzinerkresse eingefaßte, sonnenbeschienene Allee aufwärts zum Schloß. Zur Rechten hingegen breitete der Park sich vollkommen eben aus. Verdunkelt durch den Schatten großer Bäume, die ihn rings umgaben, lag ein Teich, den Swanns Eltern hatten anlegen lassen; aber auch in seinen künstlichsten Schöpfungen hat es der Mensch immer noch mit der Natur zu tun; gewisse Stätten stellen immer wieder ihre Eigenherrschaft her und richten inmitten eines Parks ihre Hoheitszeichen genauso auf, wie sie es fern von jedem menschlichen Eingriff getan hätten, in einer Einsamkeit, die sich von allen Seiten her wieder um sie schließt und ihren örtlichen Gegebenheiten gemäß alles Menschenwerk überdeckt. So hatte sich am Anfang des Parkwegs, der oberhalb des künstlichen Teiches verlief, in zwei aus Vergißmeinnicht und Sinngrün geflochtenen Girlanden eine natürliche zartblaue Krone gebildet, die die von Licht und Schatten umspielte Stirn des Wasserbeckens einfaßte, und die Siegwurz, die ihre Schwerter mit königlicher Gelassenheit senkte, erhob über dem Wasserdost und dem im feuchten Grunde wurzelnden Hahnenfuß die violetten und gelben, gefransten Lilienblüten ihres lakustrischen Zepters.
    Daß Mademoiselle Swann nicht anwesend war, benahm mir zwar die gleichzeitig erschreckende und beglückende Möglichkeit, sie am Ende eines Wegs auftauchen zu sehen und so der Bekanntschaft undNichtachtung des bevorrechteten kleinen Mädchens teilhaftig zu werden, das mit Bergotte befreundet war und in seiner Begleitung Kathedralen besuchte, aber es machte mich auch gleichgültig gegen den Anblick von Tansonville dieses erste Mal, wo er sich mir bot; in den Augen meines Vaters und meines Großvaters jedoch versah diese Tatsache den Besitz mit gewissen vorübergehenden Annehmlichkeiten und Erleichterungen, und sie machte, wie das Fehlen jeder Wolkenbildung bei einem Ausflug ins Gebirge, den Tag hervorragend für einen Spaziergang in diese Gegend geeignet; ich hätte mir gewünscht, daß ihr Kalkül durchkreuzt würde, daß durch ein Wunder Mademoiselle Swann mit ihrem Vater auftauchte, und zwar so dicht neben uns, daß wir keine Zeit mehr hätten, ihr auszuweichen, also genötigt wären, ihre Bekanntschaft zu machen. Als ich daher mit einem Male auf dem Gras, gleichsam als ein Zeichen ihrer möglichen Anwesenheit, ein vergessenes Deckelkörbchen neben einer Angel sah, deren Kork auf dem Wasser schwamm, versuchte ich rasch die Blicke meines Vaters und meines Großvaters nach der anderen Seite abzulenken. Freilich konnte, da Swann gesagt hatte, es sei nicht ganz recht, daß er das Haus verlasse, da er Verwandtenbesuch habe, die Angel sehr wohl einem seiner Gäste gehören. Kein Geräusch von Schritten war in den Parkwegen zu hören. In halber Höhe

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