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Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Titel: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Proust
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sie von den Eltern und Großeltern Mademoiselle Swanns sprächen, die mir wie Götter erschienen. Den Namen Swann, der für mich fast mythisch geworden war, wollte ich für mein Leben gern von den Lippen meiner Eltern hören, wenn ich mit ihnen sprach; ich wagte nicht, ihn selber auszusprechen, brachte sie jedoch dauernd auf Gegenstände, die in die Nähe Gilbertes und ihrer Familie führten, die mit ihr zu tun hatten und bei deren Erwähnung ich mich etwas weniger aus ihrer Nähe verbannt fühlte; ich zwang ganz plötzlich meinen Vater, indem ich so tat, als glaubte ich, das Büro meines Großvaters sei schon vor ihm in unserer Familie gewesen, oder die Dornenhecke, die Tante Léonie so gern gesehen hätte, läge auf Gemeindegrund, meine Behauptung richtigzustellen und ohne mein Zutun von sich aus zu sagen: »Aber nicht doch, das Büro hat früher der Vater von Swann gehabt, diese Hecke gehört zu Swanns Park.« Ich mußte dann tief Atem holen, so schwer legte sich auf die Stelle in mir, in der er schon eingeschrieben stand, dieser Name, der mir in dem Augenblick, da ich ihn hörte, gewichtiger als jeder andere schien, weil er schon von allen den Malen beschwert war, da ich ihn mir zuvor im Geiste vorgesprochen hatte. Ihn zu hören bereitete mir ein Vergnügen, das ich nur mit einem Gefühl von Scham von meinen Eltern zuerbitten wagte, denn dieses Vergnügen war so groß, daß ich das Gefühl hatte, es mir zu gewähren müsse sie viel Mühe kosten, eine Mühe dazu, die durch nichts wettgemacht wurde, weil es ja kein Vergnügen für sie war. So lenkte ich denn auch gleich darauf die Unterhaltung aus Gründen des Takts auf etwas anderes. Aus schwerwiegenderen Bedenken sogar. Der einzigartige verführerische Reiz, den der Name Swann für mich besaß, nahm auf der Stelle Gestalt an, sobald sie ihn vor mir nannten. Es kam mir dann plötzlich so vor, als sei es ganz unmöglich, daß meine Eltern ihn nicht auch empfänden und sich auf meinen Standpunkt stellten, meine Träume entschuldigten, zu den ihren machten; und ich fühlte mich dann unglücklich in der Vorstellung, ich hätte einen Sieg über sie davongetragen und sie moralisch verdorben.
    In jenem Jahr hatten meine Eltern den Termin unserer Abreise nach Paris etwas vorverlegt; am Morgen des Aufbruchs hatte man mir, weil ich photographiert werden sollte, die Locken gewickelt, mir vorsichtig einen Hut darauf gesetzt, den ich noch nie getragen hatte, und einen Samtkittel angezogen; ich wurde überall gesucht, und schließlich fand mich meine Mutter in Tränen auf dem kleinen steilen Pfad neben Tansonville, wie ich gerade von dem Weißdorn Abschied nahm; mit beiden Armen drückte ich die stacheligen Zweige an mich, und wie eine Tragödien-Fürstin – »die Last des eiteln Schmucks« beklagend und undankbar gegen »die lästige Hand, die durch so vieler Knoten Schlingen mein Haar auf meiner Stirn zu ordnen sich bemüht« 1 – zertrampelte ich mit den Füßen die Lockenwickel, die ich mir aus den Haaren gerissen hatte, und meinen neuen Hut. Meine Tränen rührten meine Mutter nicht, doch angesichts des zertretenen Hutes und der ruinierten Samtjacke konnte sie einen Aufschrei nicht unterdrücken. Ich aber hörte sie nicht. »Ach du armer kleiner Weißdorn«, schluchzteich vor mich hin, »du kannst ja nichts dafür, daß ich jetzt fortgehen muß, du hast mir nie Kummer machen wollen, mich nie zwingen wollen abzureisen. Du hast mir nie Schmerzen bereitet! Dich habe ich auch für immer lieb!« Und meine Tränen trocknend gelobte ich ihm, wenn ich erst groß wäre, es nicht so zu machen wie die anderen törichten Leute, und selbst in Paris an Frühlingstagen, anstatt Besuche zu machen und eitles Geschwätz anzuhören, auf das Land zu fahren und die erste Weißdornblüte zu genießen.
    War man einmal bei den Feldern angelangt, verließ man sie während des ganzen Spaziergangs in Richtung Méséglise nicht mehr. Wie ein unsichtbarer Landstreicher lief unaufhörlich der Wind, der für mich überhaupt eine Art Lokalgeist von Combray war, durch sie hin. Jedes Jahr hatte ich gleich bei unserer Ankunft das Bedürfnis, mir zum Bewußtsein zu bringen, daß ich nun wirklich in Combray war, und so ging ich hin, um ihn wiederzufinden, wie er über die Äcker strich, und lief selbst hinter ihm her. Auf dem Weg nach Méséglise hatte man den Wind immer neben sich auf der etwas gewölbten Ebene, die meilenweit von keiner Bodenerhebung unterbrochen wurde. Ich wußte, daß Mademoiselle Swann

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