Auf der Suche nach der verlorenen Zeit - Proust, M: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit
daß sie jemandem folgen mußte und also nicht über alles und jedes erhaben war; er gab mir wieder etwas Hoffnung und verminderte ein wenig meine Liebe. Doch sehrschnell schon wuchs diese Liebe wieder in einer Reaktion, in der mein gedemütigtes Herz sich entweder zu Gilbertes Höhen emporschwingen oder sie bis zu meinem Niveau herunterziehen wollte. Ich liebte sie, ich bedauerte, daß ich weder Zeit noch Einfallsvermögen genug gehabt hatte, um sie zu beleidigen, ihr Böses zuzufügen, ihr die Erinnerung an mich aufzuzwingen. Ich fand sie so schön, daß ich gern noch einmal umgekehrt wäre und ihr achselzuckend zugerufen hätte: »Ich finde Sie häßlich, grotesk, Sie widern mich an!« Statt dessen ging ich davon und trug für immer als Grundvorstellung eines für Kinder meiner Art nach einem unverrückbaren Naturgesetz unzugänglichen Glücks das Bild eines kleinen rothaarigen Mädchens mit rosa Sommersprossen mit mir fort, das eine Schaufel in der Hand hielt und lachte, während sie mir lange, hintergründige und doch ganz ausdruckslose Blicke zusandte. Und schon begann der Zauber, mit dem ihr Name die Stelle unter dem rosa Dornstrauch, an der er gleichzeitig vor ihren und meinen Ohren aufgeklungen war, mit Weihrauch umnebelt hatte, alles zu erfassen, zu durchduften und mit Balsam zu erfüllen, was irgend mit ihr zu tun hatte, ihre Großeltern, die zu kennen die meinen das unaussprechliche Glück gehabt hatten, den erhabenen Beruf des Wechselmaklers, die schmerzliche Region der Champs-Élysées, die sie in Paris bewohnte.
»Léonie«, sagte mein Großvater, als wir nach Hause kamen, »heute hätte ich wirklich gern gesehen, du wärest mit uns gekommen. Du würdest Tansonville nicht wiedererkennen. Ich wagte es nur nicht, sonst hätte ich dir einen Zweig von der rosa Dornenhecke mitgebracht, die du so sehr liebst.« Mein Großvater schilderte meiner Tante darauf unseren Spaziergang, sei es, daß er sie zerstreuen wollte, sei es, daß er noch nicht aufgab, sie doch einmal zum Ausgehen zu bewegen. Diesen Besitz aberhatte sie immer besonders geliebt, und außerdem waren die Besuche Swanns die letzten gewesen, die sie noch angenommen hatte, als ihre Tür bereits für alle anderen Leute verschlossen war. Und ebenso wie sie, wenn er jetzt einmal nach ihr fragte (sie war die einzige von uns, die er noch gelegentlich besuchen kam), ihm sagen ließ, sie sei müde, aber das nächste Mal werde sie ihn gewiß empfangen, so meinte sie an diesem Abend auch: »Ach ja, wenn einmal ein recht schöner Tag ist, lasse ich mich im Wagen bis an das Parktor fahren.« Sie sagte es und meinte es auch. Sie hätte sehr gern Swann und Tansonville wiedergesehen; aber der Wunsch war für ihre Kräfte bereits genug, eine Verwirklichung wäre zuviel für sie gewesen. Manchmal verlieh ihr das schöne Wetter einen Anflug von Stärke, sie stand auf und kleidete sich an; doch die Ermüdung setzte ein, bevor sie ins andere Zimmer gelangt war, und dann verlangte sie wieder nach ihrem Bett. Was für sie schon begonnen hatte – nur früher als üblich –, war der große Verzicht des Alters, das sich zum Sterben rüstet, sich sozusagen verpuppt; bei langen Lebensabläufen kann man selbst zwischen einstigen Liebenden, die leidenschaftlich einander zugetan waren, unter Freunden, die durch die stärksten geistigen Bande geeint waren, feststellen, daß sie von einem gewissen Jahr an die Reise oder den Ausgang nicht mehr unternehmen, die notwendig wären, um sich zu sehen, daß sie aufhören, sich zu schreiben, und wissen, daß in dieser Welt die Verbindung zwischen ihnen aufgehört hat. Meine Tante wußte sicher ganz genau, daß sie Swann nicht wiedersehen, daß sie niemals mehr das Haus verlassen würde, doch diese endgültige Zurückgezogenheit fiel ihr wahrscheinlich ziemlich leicht aus dem gleichen Grund, der sie in unseren Augen eher schmerzlich hätte erscheinen lassen: nämlich, daß diese Zurückgezogenheit ihr durch die Verminderungihrer Kräfte, die sie täglich feststellen mußte, gebieterisch auferlegt wurde, da allmählich jede Tätigkeit, jede Bewegung für sie von Ermüdung, ja Schmerzen begleitet waren, wohingegen Untätigkeit, Einsamkeit und Schweigen für sie die tröstliche, gesegnete Süße der Ruhe hatten.
Meine Tante machte sich also nicht auf, um die rosa Dornenhecke zu bewundern, ich aber fragte unaufhörlich meine Eltern, ob sie es nicht täte, ob sie früher oft nach Tansonville gegangen sei, nur um sie dazu zu bringen, daß
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